Anfang Januar erkrankte Reto Müller* (Name geändert) an Covid-19. Als es dem 34-Jährigen nach zwei Wochen nicht besser ging, suchte er seinen Hausarzt auf. «Er empfing mich ohne Maske, obwohl ich stark hustete und wohl noch infektiös war.» Der sarganserländer Allgemeinmediziner untersuchte Müller und gab ihm ein Rezept und ein braunes Fläschchen mit der Aufschrift «Physio-Lsg O2» ab. «Er sagte mir, das sei derzeit das gängige Medikament gegen Corona Kommentar zur Pseudomedizin Stoppt die Wunderheiler! .» 

Müller sollte 10 Milliliter der 0,3-Prozent-Lösung auf einen Liter Wasser geben und diesen über den Tag verteilt trinken. Was in der Flasche genau drin ist, sagte der Arzt seinem Patienten nicht – auch auf der selbst ausgedruckten, handelsüblichen Klebeetikette fehlten Inhaltsangaben. Der Mediziner erwähnte nicht, dass die Heilmittelkontrolle Swissmedic bereits im September gewarnt hatte vor der Einnahme von Chlordioxid, kurz CDL Chlordioxid Das Wunderwasser der Gläubigen . Ebenso verschwieg er, dass es kein zugelassenes Medikament und die Abgabe für ihn als Arzt somit illegal ist.

Chlordioxid kann Reizungen verursachen

Chlordioxid ist eine ätzende Chemikalie, die verwendet wird, um Textilien zu bleichen, Schimmel zu bekämpfen oder etwas zu desinfizieren. Weil der amerikanische Sektenguru Jim Humble Chlordioxid seit den Neunzigerjahren als Allheilmittel propagiert, beschäftigt es zusehends weltweit die Gesundheitsbehörden. Humble behauptet, es helfe gegen schwere Krankheiten wie Malaria, Aids, Krebs oder nun auch Covid-19. Bei der Hotline für Vergiftungsinfos, Tox Info Suisse, gingen letztes Jahr 31 Anfragen ein – nahezu eine Verdoppelung gegenüber 2019. 

Zwar sei bei einer verdünnten 0,3-Prozent-Lösung, wie Müller sie nehmen sollte, keine schwere Reaktion zu erwarten, sagt Colette Degrandi, Oberärztin bei Tox Info Suisse. «Ganz harmlos ist das Produkt allerdings auch nicht. Es gibt keine Studien, die die Wirksamkeit beweisen, darum ist jede Exposition mit dem Stoff zu viel.» Sollte beispielsweise ein Kind versehentlich einen Schluck der unverdünnten Lösung trinken, so komme es zu einer Reizung im Mund, Rachen und der Speiseröhre, ähnlich, wie wenn man etwas zu Heisses gegessen hat. «Wenn man jedoch grössere Mengen trinkt, kann es zu ernsthaften Verletzungen der Schleimhaut kommen.»

«Es gibt keine Studien, die die Wirksamkeit beweisen, darum ist jede Exposition mit dem Stoff zu viel.»

Colette Degrandi, Oberärztin bei Toxinfo Suisse

Auch Swissmedic stuft CDL als gesundheitsgefährdend ein und warnt vor der Einnahme. Weitere ähnliche Produkte sind Miracle Mineral Supplement (MMS) oder Master Mineral Solution, bei denen giftiges Natriumchlorit (nicht zu verwechseln mit Natriumchlorid/Kochsalz) mit Salzsäure gemischt wird, wodurch Chlordioxid entsteht.

Kantonsapotheker leitete Untersuchung ein

Als der Beobachter den Arzt mit den Vorwürfen konfrontiert, sagt dieser zunächst, er habe Chlordioxid nur unter der Hand an Familienmitglieder abgegeben. Müller ist aber nicht mit ihm verwandt oder verschwägert. «Ja, das ist gut möglich, dass das passiert ist.» Mehr wolle er dazu im Moment nicht sagen wegen einer laufenden Untersuchung durch den Kantonsapotheker. Dabei gehe es um «die Abgabe von CDL», wie der Arzt sagt. Von der Swissmedic-Warnung habe er Kenntnis gehabt.

Das Gesundheitsdepartement St. Gallen bestätigt, dass es nach einem anonymen Hinweis beim betreffenden Arzt am 17. Februar eine unangekündigte Kontrolle durchgeführt hat. «Es wurde geprüft, ob fachgerecht mit Medikamenten und Betäubungsmitteln umgegangen wurde und ob nur zugelassene Arzneimittel angewendet oder abgegeben werden.» Ob bei der Kontrolle auch Chlordioxid gefunden wurde und ob der Arzt bereits in der Vergangenheit Verfehlungen begangen hat, sagt die Behörde aus Daten- und Persönlichkeitsschutzgründen nicht.

Arzt redet sich raus

Hatte der Mediziner keine Bedenken, dass er mit der Abgabe seine Patienten gefährdet? «Es kommt darauf an, von welchem Produkt wir reden», antwortet er. Es gebe verschiedene Arten, wie man das Mittel abgeben könne. «Das, wovor Swissmedic warnt, hat nichts mit dem zu tun, was ich abgegeben habe. Man kann diese Produkte nicht alle in einen Topf werfen.» 

Fakt ist: Laut Heilmittelgesetz dürfen Ärzte nur zugelassene Arzneimittel in der Originalpackung abgeben. Zudem müssen bei Teilpackungen auf dem Produkt die Bezeichnung und Stärke des Arzneimittels, die Dosierung, das Verfallsdatum und auch die Abgabestelle aus Gründen der Rückverfolgbarkeit angegeben werden. Fünf dieser sechs Punkte hat der Arzt nicht eingehalten. Trotzdem sieht er darin kein grosses Problem: «Ob ich illegal gehandelt habe, kläre ich derzeit mit dem Kantonsapotheker ab», sagt er. Unterdessen habe er ein offizielles Verbot erhalten, das Produkt weiter zu verwenden. «Daran halte ich mich.»

Dosierungsangabe ist Hinweis auf Verwendung als Medikament

Kantonsapotheker Urs Künzle darf sich zum konkreten Fall aus rechtlichen Gründen nicht äussern. Allgemein hält er aber fest, dass der Besitz von Chlordioxid in der Schweiz nicht verboten sei. Ein Arzt dürfe das Produkt aber nicht in seinem Medikamentenvorrat aufbewahren, um jegliche Verwechslungen zu vermeiden.

«Wenn ein Arzt ein Produkt abgibt mit einem Hinweis, wie der Patient es dosieren muss, dann ist das ein starker Hinweis auf die Verwendung als Arzneimittel, und das Produkt fällt unter das Heilmittelgesetz.» Finde man bei einer Kontrolle nicht zugelassene Produkte, würden diese beschlagnahmt, so Künzle. 

Chlordioxid-Abgabe könnte Fall für die Justiz werden

Für Reto Müller ist die Sache glimpflich ausgegangen: «Nach einem Schluck fand ich dieses CDL so eklig, dass ich den Rest nicht mehr getrunken habe – zum Glück, wie ich heute weiss.» Den Hausarzt hat er mittlerweile gewechselt, es fehle das Vertrauen. «Wenn mir mein Arzt bei einem eher leichten Covid-Verlauf ein gefährliches Produkt abgibt und noch fälschlicherweise behauptet, es sei das Standard-Medikament – was bekomme ich dann von ihm, wenn ich an Krebs erkranke?» 

Dem Arzt droht nun eine Busse, vielleicht ein Gerichtsverfahren. Bislang gilt für ihn die Unschuldsvermutung.«Je nachdem, wie gross die Gefährdung für die Patienten war und wie schwer das Verschulden des Arztes, sprechen wir eine Verwarnung aus oder reichen eine Strafanzeige ein», sagt Kantonsapotheker Künzle. Das Strafmass sei dann Sache der Justiz.

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