Für die Kinder wollen alle nur das Beste – aber was das ist, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Pädiatrie Schweiz und Kinderärzte Schweiz forderten im Herbst, dass bei Kindern Anti-Corona-Massnahmen wie Maskentragen, Tests und Quarantäne auf ein Minimum beschränkt werden sollen. Sie hatten nichts gegen die Durchseuchung der Kinder einzuwenden, um einen geregelten Schulalltag zu gewährleisten.

Damit überhaupt nicht einverstanden sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um die Virologin Isabella Eckerle von der Uni Genf und dem Epidemiologen Christian Althaus von der Uni Bern. Sie forderten im Einklang mit Eltern der Initiative #ProtectTheKids strengere Massnahmen, um die Ausbreitung von Sars-CoV-2 unter Kindern einzudämmen.

Jetzt könnte es eine Lösung geben, auf die sich die meisten verständigen könnten: die Covid-Impfung für 5- bis 11-Jährige. Seit vergangenem Freitag ist sie in der Schweiz zugelassen.

Kinderärztinnen und Kinderärzte zurückhaltend

Viele Kinderärztinnen und Kinderärzte sind aber noch vorsichtig. «Die Kinder haben eine vergleichsweise geringe Krankheitslast. Wir haben bislang noch sehr wenig Daten zur Sicherheit und Langzeitwirkung in dieser Altersgruppe», sagt Marc Sidler, Präsident von Kinderärzte Schweiz, dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. «Wir müssen die Gewissheit haben, dass der Nutzen grösser ist als das Risiko.»

Ähnlich äusserte sich auch Christoph Berger, Leiter der Infektiologie am Kinderspital Zürich und Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (Ekif), Ende November im «Club» von SRF: «Wir haben eine Impfung, über die wir noch nicht so viel wissen. Wir müssen die Impfung anschauen und anbieten, aber wir müssen im Auge behalten, was sie den Kindern nützt.»

Mit anderen Worten: Nach der Zulassung durch Swissmedic dürfte es noch keine generelle Impfempfehlung für die Altersklasse der 5- bis 11-Jährigen von der Ekif geben, sondern lediglich eine für Kinder mit erhöhtem Risiko oder engen Kontakten zu Risikopersonen. So, wie es die deutsche Stiko, das Pendant zur Ekif, beschlossen hat. Das war auch das Vorgehen nach der Zulassung des Impfstoffs für die 12- bis 17-Jährigen in der Schweiz.

«Die Kinder leben oft seit anderthalb Jahren isoliert. Ich bin sehr froh, wenn wir sie – und ihr enges Umfeld – endlich schützen können.»

Johannes Trück, klinischer Immunologe am Kinderspital Zürich

Die Vorbereitungen für die Impfung von Kindern laufen bereits. «Die Behörden arbeiten Pläne aus, wie der Impfstoff verteilt wird», bestätigt Johannes Trück, klinischer Immunologe am Kinderspital Zürich. «Ich gehe davon aus, dass der Impfstoff zügig verimpft werden kann, sobald er zugelassen und von der Ekif empfohlen ist.» Das bedeutet wohl: Wer für sein Kind eine Impfung haben möchte, wird sie bald bekommen können. Die Entscheidung können oder müssen Eltern aber erst mal allein treffen. Viele fragen sich: Ist diese Impfung wirklich sinnvoll für meine Kinder?

Die Mediziner sind sich einig, dass Covid-19 in der Akutphase für Kinder meistens eher harmlos ist. «Obwohl wir in den letzten Wochen eine deutliche Zunahme der Corona-Infektionen bei den Kindern sehen, sind es vor allem ungeimpfte Erwachsene, die mit Covid-19 hospitalisiert werden müssen», sagt Kinderärzte-Präsident Marc Sidler. «Es sind aber auch viele Kinder mit anderen saisonal bedingten viralen Infekten, die im Moment unsere Sprechstunden füllen und in Kinderkliniken eingewiesen werden müssen.» Das RS-Virus etwa ist vor allem für Säuglinge sehr viel gefährlicher.

Was ist mit späten Langzeitfolgen wie Pims?

Allerdings sind die akuten Auswirkungen von Covid-19 meist nicht das Problem. Angst machen mögliche Spätfolgen. Da ist zum einen Pims, das Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome. Bei dieser Erkrankung kommt es zu hohem Fieber und starken Entzündungsreaktionen in vielen Organen, meist drei bis sechs Wochen nach der Infektion. Pims kann sogar entstehen, wenn die Krankheit ohne Symptome verlaufen war.

Viele dieser Kinder müssen auf die Intensivstation. In der Schweiz waren bislang laut Kinderärzte Schweiz etwa 120 Kinder betroffen. «Das sind Kinder, die schwer krank sind, etwa die Hälfte muss auf der Intensivstation behandelt werden», sagt Johannes Trück. «Die meisten erholen sich komplett, aber einige können längerfristig Probleme haben. Vor allem die Folgen auf das Herz sind noch unklar.»

Eine US-Studie geht von einem Pims-Fall auf 3000 infizierte Kinder aus. Johannes Trück hält das für eine realistische Schätzung – auch für die Schweiz. Leider sei im Moment nicht sicher, ob die Impfung Pims verhindert. «Ich rechne aber stark damit, dass das der Fall ist.» Entsprechende wissenschaftliche Belege erwartet er in den nächsten Wochen aus den USA oder Israel. Auch Christian Münz, Leiter der Arbeitsgruppe Immunologie in der Task-Force, geht davon aus, dass die Impfung gegen die seltene Komplikation Pims wirkt.

«Wir müssen davon ausgehen, dass es Long Covid auch bei Kindern und Jugendlichen gibt.»

Jörg Dötsch, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Uni Köln

Dann ist da noch die grosse Unbekannte: Long Covid Zum Psychiater statt Krankentaggeld Gutachter attestiert Long-Covid-Patientin psychische Störung . Besteht die Gefahr, dass viele Kinder für Monate oder gar Jahre nach einer Covid-Erkrankung jeglicher Lebensfreude beraubt werden, wie es Medienberichte vermuten lassen? «Wir müssen davon ausgehen, dass es Long Covid auch bei Kindern und Jugendlichen gibt», sagt Jörg Dötsch, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Uni Köln. Was relativ klar sei: «Je jünger die Kinder, desto unwahrscheinlicher.»

Gemäss Studien könnte jedes siebte infizierte Kind unter Long Covid leiden. Dass es diese Kinder gibt, ist unbestritten. «Die Datenlage ist allerdings noch unklar», sagt Dötsch. «Das liegt zum einen daran, dass Long Covid nicht genau definiert ist. Müdigkeit und Abgeschlagenheit könnten etwa auch Folgen von Depressionen infolge der Pandemie sein.» Aber jedes Kind, das vor langwierigem Leiden bewahrt wird, ist ein Gewinn – insbesondere, weil es in keiner Altersgruppe im Moment so viele nachgewiesene Infektionen gibt wie unter den Kindern.

Über 30 Pims-Fälle im Kinderspital Zürich

«Im Vergleich mit Erwachsenen mögen die schweren Verläufe bei Kindern selten sein», sagt Johannes Trück. «Aber weil es in der Pandemie so viele Infektionen gibt, sehen wir eben doch auch schwere Verläufe.» Er vergleicht die Häufigkeit mit der Infektion mit Meningokokken, Bakterien, die eine schwere Hirnhautentzündung verursachen können.

«Diese Infektion gibt es bei etwa zehn Kindern in der Schweiz pro Jahr – und wir impfen dagegen», sagt Trück weiter. «Wir hatten allein hier im Kinderspital Zürich mehr als 30 Pims-Fälle während der Pandemie.» Todesfälle durch Pims gab es in der Schweiz allerdings nicht, während Meningokokken-Infektionen schwere Langzeitfolgen und Tod zur Folge haben können.

Bisher keine Entzündung des Herzmuskels

Vieles spricht für die Impfung – sie verhindert symptomatische Infektionen zu 90 Prozent. Aber ist sie auch wirklich sicher für Kinder? In der Phase-III-Studie wurden keine schweren Nebenwirkungen beobachtet. Allerdings: Nur 1517 Kinder hatten den Impfstoff bekommen, in den Zulassungsstudien für Erwachsene waren es mehr als zehnmal so viele.

Die geringe Zahl von Kindern, die an der Studie teilnahmen, ist der Hauptgrund, warum die Ekif sich für ihren Entscheid über die generelle Impfempfehlung so viel Zeit nimmt. Denn mit so wenigen Geimpften können seltene Impfnebenwirkungen nicht festgestellt werden.So tritt die gefürchtete Komplikation Entzündung des Herzmuskels, die bei jungen Männern nach der mRNA-Impfung beobachtet wurde, nur bei einem von 16'000 auf. «Vor allem wegen dieser seltenen Nebenwirkung sind die Behörden wohl vorsichtig mit Empfehlungen», sagt Johannes Trück. «Aber bislang gibt es anscheinend bei den 5- bis 11-Jährigen dieses Problem nicht.»

Es geht auch um die soziale Teilhabe der Kinder

In den USA erhielten mittlerweile schon etwa fünf Millionen Kinder dieser Altersgruppe die erste Dosis des Präparats von Biontech/Pfizer und rund zwei Millionen Kinder die zweite Dosis. Dabei wurde keine Entzündung des Herzmuskels beobachtet. Kinder zwischen 5 und 11 Jahren bekommen – im Gegensatz zu den 11- bis 17-Jährigen – nur einen Drittel der Erwachsenendosis. Auch das senkt wohl das Risiko von Nebenwirkungen Nebenwirkungen der Impfstoffe Wie riskant ist die Corona-Impfung? .

Sicher ist bereits: Das Risiko, dass es bei jungen Männern zu einer Herzmuskelentzündung kommt, ist bei Ungeimpften etwa sechsmal häufiger als bei Geimpften.

Plausibel erscheint auch, dass all die erschreckenden Krankheitsbilder, die mit Covid-19 in Zusammenhang gebracht werden – etwa neurologische Schäden inklusive Long Covid –, durch die Impfung weniger wahrscheinlich werden. «Diese Verläufe sind nur denkbar, wenn das Immunsystem das Virus nicht schon im Rachenraum kontrolliert und abfangen kann», sagt Christian Münz, Professor für virale Immunbiologie an der Uni Zürich. «Und ebendiese Kontrolle erleichtern die Impfungen.»

Für die Kinderärzte ist immer auch ein anderer Punkt wichtig: die soziale Teilhabe der Kinder. «Ich verstehe sehr gut, wenn Eltern ihr Kind impfen lassen möchten, damit es nicht in Quarantäne muss», sagt Marc Sidler. Und Johannes Trück, der im Unispital Kinder mit schweren Immunkrankheiten betreut, sagt: «Diese Kinder leben oft seit anderthalb Jahren isoliert. Ich bin sehr froh, wenn wir sie – und ihr enges Umfeld – endlich schützen können.»

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