Ich habe neben dem Spitalbett viele verzweifelte Momente erlebt», erzählt Stefanie Steiner. Ihr Sohn Nael sei nach den Operationen mehr als einmal zwischen Leben und Tod geschwebt. Mit fünf hat er schon drei äusserst komplexe Herzoperationen hinter sich. Die letzte liegt knapp zwei Jahre zurück.

Jetzt sitzt der Bub am Küchentisch, zu Hause im aargauischen Oberrohrdorf, und nagt vergnügt an einem Plastikball. Er ist ein bisschen verlegen. Und ziemlich müde. Am Morgen Kindergarten, dann Reittherapie und Physiotherapie. Das war etwas viel für ihn. Trotzdem lacht er fröhlich.

Nael kam 2012 mit einem halben Herzen zur Welt. Der Beobachter berichtete über sein erstes Lebensjahr.

Den Kreislauf regelrecht umgebaut

Stefanie Steiner, heute 35, erfuhr schon während der Schwangerschaft, dass Nael einen schwersten Herzfehler hat. Hypoplastisches Linksherzsyndrom – ihm fehlt die linke Herzkammer, die das sauerstoffangereicherte Blut durch die Aorta in den Körper pumpt. Auch die Hauptschlagader war bei der Geburt verkümmert.

Bis in die neunziger Jahre starben Kinder wie Nael kurz nach der Geburt. Heute kann man ihnen helfen – mit drei grossen Operationen in den ersten Lebensjahren. Dabei bauen Chirurgen den Herz-Lungen-Kreislauf so um, dass er ohne die fehlende linke Kammer funktionieren kann. Die rechte Kammer muss die ganze Arbeit übernehmen. Zwei von drei betroffenen Kindern überleben und können später ein recht normales Leben führen.

Bereits neun Tage nach der Geburt überstand Nael die erste Operation. Danach konnten die Ärzte seinen Brustkorb zwei Wochen lang nicht schliessen. Der Flüssigkeitshaushalt im kleinen Körper funktionierte nicht richtig. Zwei Monate später durfte Nael endlich nach Hause, vier Wochen darauf musste er notfallmässig wieder ins Spital. Sein Herz war zu schwach, es brachte dem Körper nicht genügend Sauerstoff. Deshalb musste die zweite Operation vorgezogen werden. Wieder wurde es kritisch – eine Infektion. Tagelang wussten die Eltern nicht, ob Nael überleben würde. 

Nach dem schwierigen ersten Jahr wünschte sich die vierköpfige Familie einfach mal gemeinsame Erholung. Sie fand schliesslich ein günstiges Reha-Angebot im Schwarzwald, auf Familien wie sie zugeschnitten. Doch die IV lehnte ab. Steiners hatten trotzdem Glück. Ihre Krankenkasse übernahm die Kosten für den Aufenthalt.

Leben mit einem halben Herzen

Jedes Jahr kommen in der Schweiz 800 Kinder mit einem Herzfehler zur Welt. Den kleinen Nael traf es besonders schwer.

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Die Warnung im Chindsgi-Täschli

«Wo ist deine Chindsgi-Tasche?», fragt Stefanie Steiner. Kurz darauf kommt sie zurück und zeigt die Karte, die Nael immer bei sich trägt. Eine Skizze seines umgebauten Herzens – mit Warnungen, dass er zum Beispiel an akuten Rhythmusstörungen leiden könnte. «Im Moment geht es ihm ganz gut», sagt die Mutter. Als wolle er das bestätigen, wirft Nael seinen Ball in die Luft und trifft den Becher von Malea, seiner drei Jahre älteren Schwester.

Die dritte Operation vor zwei Jahren sollte die letzte sein. Es gab erneut Schwierigkeiten. Eine Öffnung im Herzen verstopfte. Die Ärzte mussten zwei Stents setzen. Dann versagten die Nieren, schliesslich machte die Leber Probleme. Drei Tage bangten die Eltern um Nael. Dabei hatten sie gehofft, es sei endlich vorbei. Sie sehnten sich nach etwas Normalität und Ruhe, wollten nicht mehr ständig im Notfallmodus funktionieren. Nael ist ein Kämpfer, er erholte sich auch diesmal.

In seiner Entwicklung hinkt er Gleichaltrigen hinterher. Das liegt nicht nur am Herzfehler. Er leidet auch an einem sehr seltenen Gendefekt, dem Mowat-Wilson-Syndrom, das vermutlich die Herzprobleme mitverschuldet hat. Auch andere Organe sind betroffen. Nael leidet an der Darmkrankheit Morbus Hirschsprung, die die Verdauung erschwert, und seit seinem zweiten Lebensjahr an Epilepsie. Immerhin helfen die Medikamente. Das Mowat-Wilson-Syndrom verursacht auch geistige Behinderungen. Wie schwer sie bei Nael sind, lässt sich momentan nicht abschätzen. Es gibt weltweit nur rund 400 Fälle.

Nael mag jetzt nicht mehr ruhig am Tisch sitzen. Aber laufen kann der Fünfjährige nur an der Hand. «Eigentlich könnte er es», sagt die Mutter, doch ihm fehle der Mut für die ersten freien Schritte. Dafür krabble er umso lieber. Nael möchte zu seiner Schwester in den oberen Stock. Sie hört sich in ihrem Zimmer Geschichten an.

«Warum muss ich mich dafür rechtfertigen, dass ich ein behindertes Kind habe?»

Stefanie Steiner, Mutter

In seiner Entwicklung ist Nael ungefähr auf dem Stand eines 18 Monate alten Kindes. «Er hatte die ersten drei Lebensjahre eine Sauerstoffsättigung von 80 Prozent im Blut», erklärt Stefanie Steiner. Das habe seine Entwicklung vermutlich behindert. Wie er sich in Zukunft entwickelt, lasse sich nur schwer voraussagen, weil der Gendefekt sehr selten ist und die Behandlung des Herzfehlers noch recht neu.

Die rechte Herzkammer, die bei Nael die Arbeit der fehlenden linken übernimmt, pumpt normalerweise das sauerstoffarme Blut in die Lunge. «Dieser fehlt nun quasi der Motor, der das Blut ansaugt», sagt Oliver Kretschmar, Leiter des Kinder-Herzzentrums am Zürcher Kinderspital. Atemwegsinfekte seien deshalb für Kinder wie Nael gefährlicher als für andere.

Auch die Umwelt macht es der Familie nicht immer leicht. Einmal habe man ihr an den Kopf geworfen, sie hätte ihr Kind besser abgetrieben, erzählt Stefanie Steiner. «Wieso muss ich mich dafür rechtfertigen, dass ich ein behindertes Kind habe?» Sie versucht, die Tränen zurückzuhalten. Schon während der Schwangerschaft hätten sie entschieden, dass Nael die bestmögliche Behandlung bekommen soll. «Wie lang er leben wird, habe ich nicht in der Hand. Aber ich kann alles dafür tun, dass es ihm möglichst lang gut geht.»

«Beeindruckend, wie sie sich einsetzt»

Es macht Stefanie Steiner auch wütend, wenn sie zu hören bekommt, dass sie mit ihrem behinderten Kind besser nicht berufstätig wäre. Sie ist ausgebildete Lebensmittelingenieurin, ihr Mann Rolf, 34, arbeitet bei der Post. Sie hat den Onlineladen «Little Feet» aufgebaut, verkauft Stoffe und Bastelmaterialien. «Eine feste Anstellung wäre gar nicht möglich», sagt sie. Zu häufig müsste sie für Arzttermine und Spitalaufenthalte freinehmen. Ihr Laden läuft. Inzwischen beschäftigt sie fünf Teilzeitangestellte. 

Zudem hat sie den Verein «Fontanherzen» aufgebaut, in dem sich betroffene Eltern vernetzen und gemeinsam für die Anliegen ihrer kranken Kinder kämpfen. «Es ist beeindruckend, wie sich Frau Steiner für ihren Sohn einsetzt», sagt Chefarzt Oliver Kretschmar.

Es ist unklar, ob Nael irgendwann ein neues Herz braucht – und ob er dann auch eins bekommt. Sicher ist: Die rechte Herzkammer ermüdet früher, wenn sie die gesamte Arbeit leisten muss. Das Transplantationsgesetz schreibt zwar vor, dass niemand wegen einer Behinderung benachteiligt werden dürfe. Weil es aber zu wenig Organe gibt, haben in der Praxis meist jene bessere Chancen, die sonst bei guter Gesundheit sind. Das macht Stefanie Steiner Sorgen. 

Doch Herzspezialist Kretschmar ist zuversichtlich, dass es bis in 20 Jahren noch andere Möglichkeiten als eine Transplantation geben werde, um Kindern wie Nael zu helfen.

Nael ist wieder am Küchentisch aufgetaucht. Er geht jetzt mit dem Papa einkaufen. Vorher will er sich noch mit vielen Küsschen von Stefanie Steiner verabschieden und zum Abschied auch «Mama» sagen. Es ist eines der wenigen Worte, die der Fünfjährige sagen kann.