Maskenpflicht, Schwangerenimpfung, Booster – die Schweiz war mit medizinischen Massnahmen gegen Covid-19 sehr oft später dran als die Nachbarländer. Obwohl Daten längst dafür sprachen. Jüngstes Beispiel sind die Booster-Impfungen: Drittimpfungen für zuvor nicht Infizierte und Zweitimpfungen für Genesene.

Schon früh zeichnete sich ab, dass die Immunität einige Monate nach der Impfung nachlässt. Die wissenschaftliche Task-Force des Bundes wies Ende Juni in einem Papier darauf hin – insbesondere auch auf die Tatsache, dass durch die Delta-Variante der Schutz noch rascher abnehmen werde und Booster-Impfungen für ältere Menschen anzuraten seien.

Über den Sommer und Herbst kamen dann immer mehr Daten aus Israel. Sie zeigten, dass auch doppelt Geimpfte sich infizierten – und legten nahe, dass Booster eine Infektionswelle brechen können. Dennoch dauerte es bis November, bis die Schweizer Behörden den Booster empfahlen. Allerdings zunächst nur für Risikogruppen. In Deutschland etwa waren Booster zu jener Zeit bereits für alle zu haben.

Warten auf eigene Daten

Das Bundesamt für Gesundheit meint dazu: «Erstmals im Oktober haben die Hospitalisierungsdaten der Schweiz gezeigt, dass die Schutzwirkung bei älteren Personen gegen schwere Erkrankungen leicht zurückgeht. Gestützt auf diese Datenlage sowie Daten aus England und Israel wurde die Impfempfehlung umgehend angepasst.» Mit anderen Worten: Man wartete, bis Daten aus der Schweiz vorlagen – obwohl nicht zu erwarten ist, dass Schweizer Immunsysteme anders reagieren als solche in anderen Ländern.

«Es ist aber richtig, dass ältere Menschen jetzt priorisiert geimpft werden; so können viele von ihnen hoffentlich noch vor einer schweren Erkrankung geschützt werden», sagt Christian Münz, Professor für Virale Immunbiologie an der Uni Zürich. «Aber um mit den Booster-Impfungen für alle die fünfte Welle zu brechen, kommen diese wohl zu spät.» Münz hatte als Mitglied der Task-Force Ende Juni die Empfehlung zum Boostern mitformuliert.

Der Faktor Swissmedic

Wie kommt es, dass die Schweiz einmal mehr so spät dran ist? Da ist mal Swissmedic, eine komplett eigenständige Zulassungsbehörde, was viele andere Länder in dieser Grösse nicht haben; weil sie sich wie die EU-Staaten auf die Europäische Zulassungsbehörde EMA verlassen oder dann auf die Weltgesundheitsorganisation WHO.

Diese Unabhängigkeit hat manchmal den Preis, dass Swissmedic Zulassungsgesuche später bekommt als etwa die EMA. So auch den Antrag von Biontech/Pfizer für eine dritte Dosis, die bei Swissmedic zehn Tage später eintraf als bei der EMA. Die Zulassung in der Schweiz verzögerte sich entsprechend. «Unterschiedliche Einreichungsdaten sind aber nicht das alleinig Entscheidende», schränkt Swissmedic-Sprecher Lukas Jaggi ein. «Die Eidgenössische Kommission für Impffragen könnte auch Impfempfehlungen ausserhalb der aktuell zugelassenen Indikation aussprechen.»

Streng nach Vorschrift

Aber die Kommission und das Bundesamt für Gesundheit folgten und folgen strikt den Regularien. Diese sehen vor, dass der Nutzen grösser als das Risiko ist, bewiesen an vielen Menschen, am besten solchen, die mit einer Kontrollgruppe verglichen wurden. Mittlerweile liegen solche Studien zu Boostern vor.

Aber war es wirklich notwendig, so lange zu warten? «Wenn man davon abgewichen wäre, hätte es doch einen Aufschrei gegeben wegen mangelnder wissenschaftlicher Evidenz», sagt Marcel Tanner, emeritierter Professor für Epidemiologie der Universität Basel.

Viele Medizinerinnen und Mediziner haben verinnerlicht, dass es bei Impfungen vor allem um eins geht: das Vertrauen, das man auf keinen Fall durch vorschnelle Entscheidungen gefährden soll. Diese Prozesse sind lange gewachsen und haben zu der hohen Akzeptanz von Impfungen beigetragen. Nur: Sind sie auch in einer Pandemie sinnvoll?

«In der Pandemie müssten wir einen Schalter zur Beschleunigung haben.»

Marcel Tanner, Epidemiologe

«In normalen Zeiten entsteht ja kein Schaden, wenn man auf bessere Daten wartet, um eine Impfstoffempfehlung geben zu können», sagt Christian Münz. «Da geht es ja meistens darum, ob ein neuer Impfstoff gegen einen Erreger zugelassen wird, gegen den es bereits andere Impfstoffe gibt.» In der Pandemie sei das anders. Warten auf endgültige Beweise kann viele Menschenleben kosten. «Diese Institutionen sind mit dieser sehr vorsichtigen Vorgehensweise über Jahrzehnte gut gefahren. Aber das Umschalten in der Pandemie hat nur bedingt geklappt.»

Damit ist die Eidgenössische Impfkommission nicht allein. So überraschte die britische Impfkommission anfangs damit, dass sie die Impfung nach der Zulassung nicht für alle 12- bis 17-Jährigen empfahl, anders als fast alle anderen Industrieländer. Auch die deutsche Ständige Impfkommission wird immer wieder wegen angeblicher Langsamkeit kritisiert.

Zu wenig internationale Zusammenarbeit

«In der Pandemie müssten wir einen Schalter zur Beschleunigung haben», sagt Marcel Tanner. So wie in Afrika: «Da wurden regionale Strukturen geschaffen, die über Grenzen hinweg schnell sowie ethisch wie wissenschaftlich korrekt neue Produkte zulassen und damit Infektionskrankheiten bekämpfen können.»

Christian Münz sieht den Schlüssel zu mehr Geschwindigkeit in der Pandemie eher in einer engeren internationalen Zusammenarbeit. «Die Behörden stehen unter grossem Druck und haben eine grosse Verantwortung – sie würden von stärkerem internationalem Austausch sicher profitieren», sagt er. Das Bundesamt für Gesundheit meint dazu: «Ein Austausch mit Pendants in anderen Ländern ist nicht ausgeschlossen.»

Lieber im Alleingang

Impfkommissionen sind in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich aufgestellt. In der Eidgenössischen Impfkommission etwa ist niemand aus der Immunologie vertreten, in anderen Ländern dominieren entsprechende Fachleute. «Das Spezialwissen könnte sich international gut ergänzen», sagt Münz. «Zum Beispiel hätte man sich in der Schweiz, direkt von den israelischen Gremiumsmitgliedern informiert, eventuell auch schneller von Boostern überzeugen lassen.»

Das sei Kommunikation auf Augenhöhe, während Vorschläge von Wissenschaftlern oft als von aussen kommend angesehen worden seien. «Die Schweizer Behörden haben oft nicht wirklich geglaubt, dass sie Expertise von aussen brauchen», sagt Münz. Die Empfehlungen der Task-Force fanden oft kein Gehör.

Auch ein Wohlstandsproblem

Marcel Tanner sieht noch ein anderes Problem: Wohlstand. «In den wohlhabenden westlichen Gesellschaften sind wir, was Zulassungen und Impfempfehlungen angeht, zu sehr nur auf die individuelle Sicherheit fixiert. Die Wirkung auf das Allgemeinwohl wird nicht gewichtet. Das ist in ärmeren Ländern, etwa in Afrika, ganz anders.» So wurde im Oktober eine sichere Malaria-Impfung mit nur 30 bis 50 Prozent Wirksamkeit für Kinder zugelassen. «Weil 30 Prozent weniger Leid und Last auf den Gesundheitssystemen gesellschaftlich schon sehr viel wert sind.»

Den Fokus ausschliesslich auf die persönliche Gesundheit zu legen, sei unsolidarisch. «Die Mehrzahl der Impfgegner argumentiert verantwortungslos mit haltlosen Argumenten und diffusen Befürchtungen um ihre Gesundheit gegen die Covid-Impfung», so Tanner. «Den Leuten ist nicht mehr bewusst, dass wir Krankheiten wie Pocken und Kinderlähmung nur besiegt haben, weil die Mehrzahl der Menschen geimpft wurde.» Bei der Pockenimpfung etwa waren die Nebenwirkungen weit stärker als bei den Covid-19-Impfstoffen. Von einer Million Geimpften starben ein bis zwei.

Schneller als auch schon

Bei aller Kritik, es gibt deutlich mehr Tempo gegenüber früher: dank dem Rolling-Review-Test- und Zulassungsverfahren. «Das ist aus dem Traum und der Notwendigkeit geboren, dass eine Zulassung schneller, aber dennoch ethisch wie wissenschaftlich korrekt gehen muss», sagt Marcel Tanner.

Für Leute, die vergeblich versuchen, noch vor Weihnachten einen Termin für eine Booster-Impfung zu bekommen, mag das ein schwacher Trost sein. Aber man erinnere sich: Der erste Impfstoff gegen Covid-19 wurde sehr schnell, schon am 19. Dezember 2020, in der Schweiz zugelassen – sogar schneller als in der EU.

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