Es passiert am ersten Weihnachtstag vor zehn Jahren. Simone Reinert braust die Skipiste hinunter, als sie plötzlich die Kontrolle verliert und frontal auf den Kopf fällt. An das, was nachher kommt, kann sie sich nicht mehr erinnern. 

Die damals 22-Jährige wird mit dem Helikopter ins Spital geflogen, kommt auf die Intensivstation und wird dort mit einem Schädel-Hirn-Trauma ins künstliche Koma versetzt. Knapp fünf Wochen später verlässt sie das Krankenhaus mit einer Einschränkung: Ihr Geruchs- und ihr Geschmackssinn sind weg. «Zu diesem Zeitpunkt waren ich und meine Familie einfach nur dankbar, dass ich noch am Leben und eigentlich ja gesund bin», erinnert sich Reinert. 

Nach wenigen Wochen kommt immerhin der Geschmackssinn zurück, teilweise zumindest. Die Geschmacksknospen auf der Zunge nehmen die fünf Geschmacksrichtungen süss, salzig, sauer, bitter und umami wahr. Bei Simone Reinert blühten diese Knospen nach dem Unfall wieder auf.

Doch nur rund ein Fünftel des Geschmackserlebnisses kommt von diesen Geschmacksknospen. Der grösste Teil wird durch die Riechrezeptoren in der Nase generiert. Diese erholten sich bei Reinert auch nach langem Warten nicht. «Ich habe mir immer wieder eingeredet, dass der Geruchssinn der irrelevanteste ist», erzählt die Accountmanagerin aus Embrach ZH.

Mehrmals täglich unter der Dusche, Deo stets griffbereit

Doch dann kam der Sommer. Reinert sass bei 30 Grad im Bus ohne Klimaanlage. Ihr erster Gedanke: «Zum Glück kann ich nicht riechen, wenns hier stinkt.» Ihr zweiter Gedanke: «Was, wenn ich selbst stinke?» Diese Angst hält sich hartnäckig. So hartnäckig, dass die inzwischen 32-Jährige im Sommer täglich mehrmals duscht, in jeder Handtasche Deo und Erfrischungstücher griffbereit hat und ihr Umfeld gebeten hat, ihr ehrlich zu sagen, sollte sie unangenehm riechen.

Doch das ist gar nicht so einfach. «Ich erinnere mich, wie eine Kollegin sehr verlegen war, als sie mir vorschlug, dass wir uns auf einer öffentlichen Toilette etwas frisch machen sollten», erzählt Reinert. «Ich war ihr so dankbar für ihre Ehrlichkeit. Das hat sie gespürt und ist heute entspannter.»

Am meisten vermisst die Accountmanagerin den Geruch geliebter Menschen. «Als mein Patenkind zur Welt kam, wurde mir bewusst, dass ich diesen einzigartigen Duft eines Neugeborenen wahrscheinlich nie mehr riechen werde, das hat mich traurig gemacht», erzählt sie.

Tatsächlich sind Riechstörungen relativ häufig: Rund fünf Prozent der Bevölkerung riechen nichts. Bei der älteren Bevölkerung ist die Zahl vergleichsweise höher. So leiden rund 20 Prozent der über 50-Jährigen an einer deutlichen Riechminderung. Die häufigste Ursache für Riechstörungen sind chronische Nebenhöhlenentzündungen Missachtete Warnzeichen Was Entzündungen in unserem Körper auslösen oder Unfälle. Auch nach Viruserkrankungen können Menschen plötzlich nicht mehr oder nur noch reduziert riechen. Besonders häufig ist das nach einer Covid-19-Infektion der Fall.

Ein Jahr nach Corona-Infektion: Geruchs- und Geschmackssinn noch immer eingeschränkt

Caroline Erbsmehl aus Reinach BL hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass ihr Geruchs- und ihr Geschmackssinn irgendwann ganz zurückkommen. Nachdem sie im Februar letzten Jahres an Covid-19 erkrankt war, roch und schmeckte sie während rund eineinhalb Monaten nichts mehr. Seither hat sich die Situation kontinuierlich verbessert, heute – über ein Jahr später – seien ihr Geruchs- und ihr Geschmackssinn wohl zu 70 bis 80 Prozent zurückgekehrt, vermutet sie.

Die Anzeigenleiterin riecht und schmeckt nicht nur weniger, gewisse Gerüche und Aromen haben sich in ihrer Wahrnehmung komplett verändert. So musste die 31-Jährige zum Beispiel Zitrone und Knoblauch gänzlich von ihrem Menüplan streichen: «Sie schmeckten plötzlich total widerlich.» Dabei bereitet ihr aber nicht das Essen den grössten Kummer: «Auf einmal ist man nicht mehr Herr der Lage, merkt nicht mehr, ob etwas stinkt, verdorben oder angebrannt ist oder sogar Feuer gefangen hat.»

Riechtraining: «Ein Versuch lohnt sich in jedem Fall»

Tatsächlich leiden 60 Prozent der Covid-19-Patienten unter Riechverlust oder -störungen. Bei rund 15 Prozent der Patienten, so das Resultat einer italienischen Studie, ziehen sich die Riecheinbussen über mehrere Wochen oder Monate hin. Ein internationales Team von 20 Riechforschenden kam zum Schluss, dass die einzige wirksame Methode zur Reduktion von postviralem Riechverlust ein Riechtraining ist.

Auch Michael Soyka, leitender Arzt der Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie am Universitätsspital Zürich, empfiehlt insbesondere Patienten mit einem verminderten Riechvermögen ein Riechtraining. «Die Studien dazu sind nicht über jeden Zweifel erhaben, aber da das Training keine Risiken birgt, günstig ist und wenig Zeit kostet, lohnt sich ein Versuch in jedem Fall.» Dazu müssen Betroffene ätherische Öle mit den Gerüchen Eukalyptus, Rose, Nelke und Zitrone morgens und abends jeweils rund zehn Sekunden vor die Nase halten und daran riechen. Nach drei bis vier Monaten können zwei weitere, beliebige Düfte ergänzt beziehungsweise getauscht werden. Insgesamt sollte das Riechtraining mindestens vier bis sechs Monate andauern. 

Wird das Riechtraining konsequent durchgeführt, kehrt das Riechvermögen etwas schneller zurück. Ergänzend dazu können auch vitaminhaltige Nasenöle lokal angewendet eine Verbesserung bewirken. «Auch hier gilt der Grundsatz: Nützt es nichts, so schadet es nichts», sagt Soyka.

Kortisonbehandlungen in Tabletten- oder Tropfenform können bei gewissen Patienten ebenfalls zu einer Linderung der Symptome führen. Da die Behandlung allerdings Nebenwirkungen mit sich bringen kann, wendet es der HNO-Experte nur dann an, wenn der Leidensdruck beim Patienten wirklich hoch ist. Und tatsächlich sei das nicht selten der Fall. «Der Geruchssinn ist stark mit Emotionen verbunden. Wenn man plötzlich sein Kind oder den Partner nicht mehr riechen kann, ist das keine Lappalie», sagt der Arzt.

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