Ein Sieg gegen die IV
Die Invalidenversicherung glaubt vielen nicht, die am Erschöpfungssyndrom leiden. Einer hat sich erfolgreich gewehrt. Können Betroffene nun hoffen?
Veröffentlicht am 16. September 2022 - 10:54 Uhr
Rudolf Blatter war nervös, als er die Schreiben der IV-Stelle des Kantons Bern erhielt. Das erste liess ihn verzweifeln: «Kein Anspruch auf eine Invalidenrente». Das zweite liess ihn aufatmen: «Zusprache einer Invalidenrente». Dazwischen liegen nur anderthalb Jahre. An Blatters Zustand hat sich wenig verändert. Es geht ihm noch immer schlecht. Und doch ist nun alles anders: Die IV hat seine Krankheit anerkannt, sein Kampf hat sich gelohnt. Er erhält jetzt endlich eine IV-Rente.
Es kommt nur selten vor, dass ein zweites IV-Gutachten erstellt wird. Aber Blatter hatte Biss – und Glück. «Unter fairen Bedingungen wäre das gar nicht nötig», sagt sein Anwalt Rainer Deecke.
Blatter leidet seit über zehn Jahren am Erschöpfungssyndrom: an Myalgischer Enzephalomyelitis (ME/CFS). Seine Müdigkeit ist nicht mit derjenigen von Gesunden vergleichbar. Sie lähmt seinen Körper, betäubt seinen Kopf, schwächt die Muskulatur. Oft hat der 55-Jährige Halsschmerzen und fühlt sich krank. Früher arbeitete er im Personenschutz beim Bund. Jetzt liegt er manchmal tagelang flach.
Seine Leidensgeschichte begann 1993 mit einer Stirnhöhlenentzündung. Dreimal wurde er operiert, die Schmerzen aber blieben. Jahrelang wurde er mit Antibiotika und Schmerzmitteln behandelt, plötzlich fühlte er sich extrem erschöpft.
90 Prozent arbeitsfähig?
Die Ärzte fanden Pilze und Viren wie Epstein-Barr oder Herpes. Eine Erklärung dafür hatten sie nicht. Also schleppte sich Blatter von Praxis zu Praxis. Erst 2019 erhielt er die korrekte Diagnose.
Ein Jahr darauf untersuchten ihn acht IV-Gutachter des Ärztlichen Begutachtungsinstituts (ABI) Basel. Dann entschied die IV-Stelle des Kantons Bern: 90 Prozent arbeitsfähig. Doch Blatter hatte noch einen Trumpf im Ärmel: Zeitgleich hatte er sich am Inselspital untersuchen lassen. Die Resultate standen im krassen Gegensatz zur IV-Beurteilung. Die Beschwerden seien als schwer einzustufen, befand das Spital. Der Patient erfülle alle internationalen Kriterien für die Diagnose von ME/CFS.
Also musste das ABI über die Bücher. Der neue Befund einige Wochen später: 70 Prozent arbeitsfähig. Damit lag der Invaliditätsgrad unter 40 Prozent, die IV hätte keine Rente zahlen müssen.
«Erfinderische Mediziner»
Als sich Blatter wehrte, banalisierte der leitende Gutachter die Krankheit. Er sprach von «erfinderischen Medizinern», «subjektiven Beschwerden», die man «immer wieder neu mit für Laien sehr schwerwiegend tönenden Namen» versehe. Gerade die «besonders gefährlich tönende Myalgische Enzephalomyelitis» sei ein sehr ungeeigneter Begriff.
Blatter focht das Gutachten mit seinem Anwalt und einer leitenden Ärztin des Inselspitals an (der Beobachter berichtete ). Und hatte einen ersten Erfolg: Anfang 2021 wurde er ein zweites Mal untersucht. Diesmal in der Rehaklinik Bellikon – stationär, eine Woche lang.
Der Bescheid liegt jetzt vor: Der Invaliditätsgrad liegt bei 87 Prozent. Damit erhält Blatter rückwirkend auf Anfang 2020 eine ganze IV-Rente. «Es lohnt sich also doch, für einige Dinge zu kämpfen», sagt er. Ärgerlich sei einzig der grosse Aufwand, den er betreiben musste. «Das neue Gutachten kommt exakt zum selben Schluss wie das Inselspital. Zwei Jahre sind verloren, Hunderttausende Franken Staatsgelder vergeudet.»
Von der positiven Kehrtwende bei Blatter werden andere Betroffene kaum profitieren. Auch künftig wird jeder Fall einzeln und unabhängig beurteilt.
Krankheitsbilder wie Fatigue oder auch Long Covid seien diffus, heisst es bei der IV-Stelle Bern. Die Symptome liessen sich nicht so leicht objektivieren wie bei einem Knochenbruch. Dass es so zu unterschiedlichen Beurteilungen komme, liege auf der Hand. Nur: In Blatters Fall bedeutete das erst gar keine Rente, dann eine volle.
Der neue Entscheid hat seinen Anwalt nicht überrascht. «Ein zweites Gutachten fällt oft zugunsten der versicherten Person aus. Rudolf Blatter wurde sehr viel länger und gründlicher untersucht als beim ersten Mal», so Rainer Deecke. Das jetzige Abklärungsverfahren stecke voller Fehlanreize : «Honoriert wird vor allem Quantität und nicht die Qualität der gutachterlichen Arbeit. Für Gutachter ist es einfacher, eine Person arbeitsfähig zu schreiben, als eine Arbeitsunfähigkeit mit Zusatzabklärungen nachzuweisen.» Die Waffengleichheit sei nicht gewährleistet.
Ein Verein für Betroffene
Deecke gründete im vergangenen Jahr mit anderen Anwältinnen und Anwälten den Verein Versicherte Schweiz. Dieser kämpft für faire und transparente Zivil- und Sozialversicherungsverfahren – und hilft Versicherten, die sich gegen ungerechtfertigte Einschätzungen wehren. Darunter mehrere ME/CFS-Betroffene.
Die meisten Entscheide stehen zwar noch aus, nach dem jüngsten Urteil ist Deecke aber zuversichtlich. «Das Bewusstsein für die Krankheit ist stark gestiegen. Man kann sie nicht mehr so einfach abtun wie noch vor zehn Jahren.»
Eine körperliche Krankheit
Die Schweizerische Gesellschaft für ME und CFS spricht sogar von einem grundlegenden Umdenken. «Endlich wurde in den letzten Jahren anerkannt, dass es eine körperliche Krankheit ist, kein psychosomatisches Leiden», so Co-Präsident Jonas Sagelsdorff. 2015 entschuldigte sich in Norwegen die Premierministerin bei Betroffenen. 2020 beschloss das EU-Parlament die Finanzierung von Forschung und Kampagnen. Seit 2021 gibt es in Grossbritannien neue Richtlinien für den Umgang mit ME/CFS.
Auch in der Schweiz tut sich was – aber langsam. «In den letzten sieben Jahren wurden fast drei Viertel der IV-Anträge abgelehnt», sagt Sagelsdorff. «Fachleute in grossen Spitälern sind zwar mittlerweile besser informiert, doch noch immer ist die Überforderung gross. So kann keine angemessene Versorgung gewährleistet werden.»
Bei Hausärzten sei die Krankheit kaum bekannt, in Rehakliniken dränge man Erkrankte gar zu Aktivierungsprogrammen. Ein schwerer Fehler, denn nach Anstrengung verschlimmern sich die Beschwerden, teils für immer. Ein anderes Problem: IV-Stellen urteilten mit grossen kantonalen Unterschieden. Vorbildlich sei Graubünden, wo Medizin und IV eng zusammenarbeiten.
Ermöglicht hat die Zusammenarbeit Gregory Fretz. Der Leiter der Medizinischen Poliklinik führt eine Sprechstunde für Betroffene am Bündner Kantonsspital. Da sei ihm aufgefallen, wie viele durch die Maschen fallen. «Zusammen mit einem Psychiater, der viele Erkrankte betreut, habe ich die IV um ein Gespräch gebeten. Die Offenheit und das Interesse waren gross.»
Verwandt mit Long Covid?
Seither gebe es einen regelmässigen Austausch – neu auch über Long Covid. Denn die Symptome sind sehr ähnlich. «Einige Long-Covid-Patienten behandle ich seit zwei Jahren. Sie unterscheiden sich kaum noch von solchen mit ME/CFS», sagt Fretz. «Manchmal bin ich versucht, zu sagen, es sei dieselbe Krankheit.»
Mit einem entscheidenden Unterschied: «Bei ME/CFS haben Erkrankte meist eine jahrelange Odyssee hinter sich, Long Covid wird oft nach wenigen Wochen diagnostiziert. Das wirkt sich günstig auf die Prognose aus.»
In einen Topf werfen sollte man die Krankheiten trotzdem nicht. Wie ähnlich sie wirklich sind, wird sich noch zeigen. Die intensive Erforschung von Long Covid dürfte aber auch Menschen wie Rudolf Blatter helfen. «Vielleicht kommt bald ein Medikament oder eine Therapie auf den Markt», hofft der Berner.
Den neuen, positiven Entscheid der IV feierte er in Spiez – in den Ferien mit Frau und Freunden. «Gesund werde ich dadurch zwar nicht, aber zumindest eine Sorge bin ich los.»
Ein Viertel der Betroffenen wird dauerhaft bettlägerig, nur zwei von fünf können weiterarbeiten. In schwersten Fällen kann man nicht mehr sprechen und muss künstlich ernährt werden: Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) ist eine neuroimmunologische Erkrankung mit unbekannter Ursache.
Einige vermuten genetische Vorbelastungen. Meist wird ME/CFS durch eine Infektionskrankheit ausgelöst, Fehlfunktionen des Immunsystems sind beteiligt.
Standardisierte Therapien gibt es nicht, eine individuelle Abklärung ist zwingend. In der Schweiz sind zwischen 16'000 und 24'000 Menschen betroffen.
Die Schweizerische Gesellschaft für ME & CFS setzt sich für eine bessere medizinische und soziale Absicherung von ME/CFS-Patientinnen ein und berät Betroffene bei allen die Krankheit betreffenden Fragen.
3 Kommentare
Die im Artikel beschriebene Vorfälle sind mir bekannt, möchte aber generell auf etwas Wichtiges hinweisen.
Die IV scheinen erst mal alle IV-Anträge abzulehnen. Sie spielen auf Zeit und manche verlieren die Geduld, geben auf. Anwälte klären zuerst die Kostenfrage ab, sie wollen Geld.
Die von der IV beauftragen Ärzte schreiben Gutachten, die vor Gericht (das man selten sieht), schwer umzustossen sind. Zudem besteht oft ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis der Ärzte gegenüber der IV. So weiss man die Resultate vorher.
Wenn man sich selbst untersuchen lässt, meist in einem Konsilium (Untersuchung länger als 2 Stunden), schreibt der Arzt auch ein Gutachten, das selbst aber NUR als Zweitmeinung gilt. Diese hat weit weniger Gewicht als ein Gutachten. Um gehört zu werden, braucht es überwiegend mehrere «Meinungen». Diese Untersuchungen gehen ins Geld. Mehr als Fr. 3'000.-. Glücklich, der eine Versicherung hat.
Das heutige IV Verfahren zerstört immer wieder Lebensgrundlagen und Existenzen. Anstatt Vertrauen zu schaffen und mit den Betroffenen gemeinsam nach best möglichen Lösungen zu suchen weiter in Würde Leben zu können. Kenne es leider nur all zu gut.
Wenn die allmächtige IV "Nein" sagt, sag der Taggeldversicherer auch "Nein". Auch alle weiteren, wie die Pensionskasse. Man könnte ein Sozialfall werden. Mein Kampf dauerte 7 Jahre. Für ältere Menschen könnten zwischenzeitlich sterben. Die brauchen keine IV mehr.