Frau Harzheim, die Zahl der suizidal gefährdeten Kinder und Jugendlichen ist stark gestiegen, die Notfallstationen sind überfüllt. Was ist da los?
Christine Harzheim: 
Eine schockierende Entwicklung. Es ist sehr traurig, wenn junge Menschen so verzweifelt sind. In den letzten zwei Jahren hatte ich vermehrt mit Eltern zu tun, die Angst um ihre Kinder hatten.


Seit Corona?
Die Pandemie spielt sicher eine Rolle, da sie mit einem Verlust an Sicherheit und Ordnung einhergeht. Erwachsene sind gestresst und dünnhäutig, das spüren die Kinder. Es herrscht eine ständige Verunsicherung, was die Schule angeht. Aber die Belastung hat schon vor Corona zugenommen.


Weshalb?
Ich vermute eine Kombination aus verschiedenen Faktoren. Den grundsätzlich hohen, ständigen Leistungsdruck in unserem System, das höhere Tempo und die fehlenden Ruhephasen für Gehirn und Nervensystem durch die extreme Bildschirmzeit. Das überfordert viele Kinder und Jugendliche.


Wie äussert sich das?
Viele ziehen sich zurück, sind verzweifelt und wirken ängstlich oder untröstlich. Sie verlieren ihre Freude und Lebendigkeit. Manche wirken plötzlich aggressiv oder haben Schlafstörungen.


Handelt es sich dabei nicht auch um vorübergehende Phasen?
Natürlich. Es ist wichtig zu wissen, dass solche Symptome nicht gleich auf eine Suizidgefährdung hindeuten. Wenn das Kind einmal nicht schlafen kann oder sich zwei Tage zurückzieht, sollten Eltern nicht gleich in Panik verfallen.

«Eltern haben oft Angst, ihr Kind durch das Ansprechen erst auf die Idee zu bringen. Aber das passiert nicht.»

Christine Harzheim, Psychologin

Wann müssen Eltern sich Sorgen machen?
Ein wichtiges Zeichen ist es, wenn Eltern keinen Zugang mehr zu ihren Kindern haben. Auch wenn die Symptome über einen längeren Zeitraum anhalten oder schlimmer werden und Jugendliche keine Kontakte zu Gleichaltrigen mehr pflegen, sind das wichtige Hinweise. Deutliche Warnzeichen sind ausserdem Sätze wie «Es wäre besser ohne mich» oder «Ich wäre besser nie geboren worden».


Wie sollen Eltern in so einem Moment reagieren?
Sie sollten ruhig, warmherzig und präsent sein, ohne das herunterzuspielen oder panisch zu handeln. Ein Kind in diesem Zustand muss spüren, dass seine Eltern es ernst nehmen. Das Wichtigste ist, den Druck sofort zu reduzieren, ruhig zu sprechen, sich dem Kind anzunähern, Fragen und Überlegungen zu äussern. Das Thema Suizidgedanken darf ruhig angesprochen werden.


Ist das nicht heikel?
Eltern haben oft Angst, ihr Kind durch das Ansprechen erst auf die Idee zu bringen. Aber das passiert nicht. Sprechen sie es nicht an, bleibt das Kind isoliert und fühlt sich einsam und unerkannt. Benennen sie hingegen die Probleme, können sie sich mit ihrem Kind verbinden.


Wann sollten sich Familien Hilfe holen?
Sobald sie beunruhigt sind – besser früh als zu spät. Eltern können beim Haus- oder Kinderarzt nach Unterstützung fragen, den Elternnotruf oder die Nummer 143 wählen. Auch bei den regionalen Kriseninterventionszentren (KIZ) gibt es Hilfe. Kinder und Jugendliche können sich anonym an die Nummer 147 wenden.


Warum begehen junge Menschen Suizid?
Aus meiner Erfahrung wollen Kinder und Jugendliche nicht sterben, sondern halten das Leben – so, wie es sich im Moment für sie anfühlt – nicht mehr aus. Sie sind tief verzweifelt, haben keinerlei Perspektive mehr. Der akute Schmerz übertrifft alles.


Ist das bei Erwachsenen anders?
Erwachsene erleben sich in einer viel grösseren Perspektive. Sie schauen bewusst zurück auf eine Vergangenheit und können emotional in eine Zukunft «vorspulen». Sie haben etliche Male erlebt, dass schwierige Phasen überwunden werden.

Starker Anstieg der Suizid-Zahlen bei Minderjährigen

Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern hat 2021 im Vergleich zu 2020 über 50 Prozent mehr suizidgefährdete Minderjährige auf der Notfallstation betreut. In der Klinik befinden sich aktuell fast dreimal mehr junge Menschen, als sie Notfallplätze zur Verfügung hat. Schon im Jahr davor hatte sie einen Anstieg um 50 Prozent erlebt.

Suizid ist nach dem Unfalltod die zweithäufigste Todesursache bei den 10- bis 19-Jährigen in der Schweiz; jährlich nehmen sich im Schnitt 35 Kinder und Jugendliche das Leben. Seit zehn Jahren steigt die Zahl psychischer Leiden bei Jungen an.

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