«Ich weiss, es sind nur Haare», sagte mein Bekannter und legte eine Kunstpause von einer Länge ein, dass sein Schweigen eher das Prädikat «Kunststille» verdient hätte. Seit unserem letzten Treffen war sein Haupthaar deutlich dünner geworden. Und es stresste ihn gewaltig: «Das Schlimmste ist, dass man sich über so etwas nicht beklagen darf.» Und schliesslich meinte er noch: «Mir geht es gut. Ich bin gesund. Mein Leben ist sicher.» Pause. «Aber weisst du was? Ich hasse es, dass das jetzt passiert.»

Mein Bekannter rannte bei mir offene Türen ein. Nicht, weil ich der Überzeugung gewesen wäre, dass sein Leben jetzt nachhaltig schlechter werden würde. Aber ich fand es schon immer eine Frechheit, wenn Unbeteiligte für andere Menschen bestimmen wollen, was schlimm ist und was nicht. Und den Satz «Es sind nur Haare» habe ich bisher ausschliesslich von Personen gehört, die nie von einer Haarkrise Tinkturen, Transplantation & Co. Was bei Haarausfall wirklich hilft betroffen waren.

Haare sind nämlich wichtig, zuweilen fast existenziell. Das können aber vermutlich nur Menschen nachvollziehen, die ihre irgendwann verloren haben oder denen sonst etwas Aufrüttelndes in diesem Bereich passiert ist.

Haare sind etwas sehr Persönliches

Die psychologische Bedeutung von Haaren wird in unserer Gesellschaft chronisch unterschätzt. Gerade unser Haupthaar ist ein essenzieller Bestandteil unserer Identität Der Fall Plötzlich kahl . Haare können Dinge wie Status, Jugendlichkeit, Gesundheit oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe symbolisieren. Sie sind ein wichtiges Element unseres Selbstausdrucks und prägen sich bei unserem Gegenüber oft stärker ein als unser Antlitz.

Sie befinden sich in unmittelbarer Nähe unseres Gesichts, das ein Zentrum für soziale Interaktion und Informationen ist. Haare repräsentieren etwas Persönliches und Intimes. Dieser Umstand wirkt so stark, dass – so habe ich es mindestens von meinem Coiffeur gelernt – ein guter Stylist sogar im Salon zuerst kurz um Erlaubnis bittet, bevor er einer neuen Kundin in die Haare greift.

«Wir verlieren manchmal nicht einfach nur Dinge, sondern auch die Welten und Träume, die wir mit ihnen in Ver­bindung bringen.»

Caroline Fux, Psychologin

Persönlich war ich in Bezug auf meine Haare immer ein Stückchen abseits der grossen Masse unterwegs. Ich trug meine kurz und bunt, oft zu einer Zeit und in einem Alter, wo es mich zu einer Exotin machte. Als Folge davon musste ich mir ständig ungefragt ganze Psychogramme anhören, in denen es um Forschheit, Mut, sexuelle Orientierungen, fehlende Sinnlichkeit und Weiblichkeit oder andere, übrigens oft nicht besonders schmeichelhaft gemeinte Attribute ging.

All das war kein Drama, aber der Umstand, wie nachhaltig, tief und ungefragt stets von meinem Äusseren auf mein Inneres geschlossen wurde, hat mich nicht nur verwundert, sondern oft auch etwas genervt.

Unbewusste Wirkung nach aussen

Heute bin ich dankbar für diese Erfahrung. Sie mag ein Klacks gewesen sein im Vergleich mit dem, was andere Menschen erleben, aber sie hat immerhin ein Stück weit meine Sinne dafür geschärft, welchen Einfluss Haare haben können und dass wir unserer Wirkung nach aussen nie ganz entfliehen können.

Es ist ein Segen, wenn wir diese einigermassen unter Kontrolle haben. Es hilft uns, psychologisch wichtige Kontrolle zu erleben. Ganz abgesehen davon, dass es Spass machen kann, mit bestimmten Signalen zu spielen, eine innere Veränderung mit einer äusseren zu unterstreichen oder sie überhaupt erst ins Rollen zu bringen. Der Spass hört allerdings dann auf, wenn wir uns plötzlich hilflos und verletzlich fühlen in so einem Thema.

Zeit, um den Haarausfall zu betrauern

Mit Kontrollverlust umgehen zu können, ist ein herausfordernder und wichtiger Lernschritt im Leben. Und ja, es ist toll, wenn man an den Punkt kommen kann, an dem das «Es sind ja nur Haare» von Herzen kommt und mit Erleichterung und Gelassenheit verbunden ist. Aber es sind nun mal keine Gelassenheitsmeister vom Himmel gefallen, und Oberflächlichkeiten können manchmal ungeahnt tief gehen.

Mein Bekannter hat wie alle anderen das Recht, mit seinem Verlust zu hadern und ihn angemessen zu betrauern, bevor er überhaupt ans Abschliessen denken kann. Denn wir verlieren manchmal nicht einfach nur Dinge, sondern auch die Welten und Träume, die wir mit ihnen in Verbindung bringen. Und das darf wehtun. Diskussionslos.

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Bei manchen lichten sich die Haarreihen vor der Zeit. Dr. Claudia Twerenbold sagt, was zu tun bleibt.
Quelle: Beobachter Bewegtbild

Zur Person

Caroline Fux

Caroline Fux schreibt für den Beobachter über ihre Arbeit als Psychologin und die tägliche Konfrontation mit sich selbst. Ausserdem ist sie Co-Autorin der Beobachter-Bücher «Was Paare stark macht», «Guter Sex» und «Das Paar-Date».

Quelle: Paul Seewer

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