Evelyn Reimann kann Zugfahrten nicht ausstehen. Die Mitreisenden, die am Handy plaudern, die kreischenden Gleise, die Schwaden von Essen und Parfüm – die 35-Jährige sagt: «Meine Nerven sind dann so angespannt, dass ich schreien könnte.» Hinzu kommt der Vorwurf: «Kannst du nicht sein wie die anderen?»

Schon als Schülerin fühlte sich die Aargauerin auf Ausflügen schnell erschöpft, überreizt, nicht zugehörig. Von ihrem Umfeld hörte sie Sätze wie «Du bist eine Mimose» oder «Du willst wohl etwas Besonderes sein». Solche Aussagen trafen sie tief und tun es bis heute: «Es ist, als hätte ich keine Haut.»

Eine Odyssee von Therapie zu Therapie beginnt für die zierliche Frau, sie sucht nach einer Erklärung dafür, was mit ihr nicht stimmt. Als eine Psychotherapeutin findet, sie erlebe ihre Klientin als übertrieben anspruchsvoll, läuft das Fass über: Evelyn Reimann fühlt sich verurteilt von einer Person, von der sie sich Hilfe und Verständnis erwünscht hatte.

«Mein Körper setzte mir Grenzen»

Beim Versuch, ihrem Leben eine Richtung zu geben, beginnt sie Politikwissenschaften zu studieren, später Theologie, und sie lässt sich zur Reiseleiterin ausbilden. Sie besucht eine Filmschauspielschule, versucht sich als Journalistin, arbeitet auf einem Bauernhof, in einer Kindertagesstätte, in einem Haus für Drogenabhängige und in einem Aids-Hospiz in Brasilien.

Eine Woche bis anderthalb Jahre hält sie jeweils durch: «Mein Körper setzte mir immer Grenzen, obwohl mein Geist weitermachen wollte, ich fiel immer wieder in ein Loch.» Jahre später – Reimann ist in der Uniklinik Basel – kommt die Suche nach der psychischen Krankheit zu einem Ziel. Man bescheinigt ihr, sie habe nichts weiter als ein dünnes Nervenkostüm – sie sei hochsensibel.

Dieser Befund trifft auf 15 bis 20 Prozent der Menschen zu, wie die US-Psychologin Elaine Aron schätzt. «Hochsensible nehmen innere und äussere Reize wie durch einen Verstärker wahr», erklärt Brigitte Küster, psychologische Beraterin und Gründerin des Instituts für Hochsensibilität in der Schweiz. Dazu gehören Geräusche, Gerüche, Gedanken oder Gefühle. Fragebögen und Tests können einen Anhaltspunkt liefern, ob und in welchem Ausprägungsgrad man selbst hochsensibel ist.

Evelyn Reimann

Quelle: Christian Schnur
Forschung steckt in Kinderschuhen

Seit Elaine Aron das umstrittene Konzept der Highly Sensitive Person (HSP) in den neunziger Jahren prägte, begannen auch Forschungen im deutschsprachigen Raum. Dennoch: «Die Forschung zum Thema steckt in den Kinderschuhen», sagt Küster.

Klar sei auf jeden Fall: Hochsensibilität ist als Veranlagung weder positiv noch negativ zu bewerten. Je nachdem, wie das Leben spiele, welche Erfahrungen man mache, kann es für Hochsensible einfacher oder schwieriger sein, mit dieser Veranlagung zu leben. «Manche Depressionserkrankungen sind möglicherweise auf eine hochsensible Wahrnehmungsfähigkeit zurückzuführen», sagt Küster.

Brigitte Küster kämpfte selbst mit ihrer hohen Empfindsamkeit. Die Mutter von zwei Kleinkindern wollte alles richtig machen. Als jedoch nichts so klappen wollte, wie man es von ihr vermeintlich erwartete, wurde sie unsicher, überfordert, überreizt. «Dann fängt der Magen an zu flattern, es wird einem schlecht oder man kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, man ist wie verschwommen innerlich, fühlt sich wie im Nebel.»

Mittlerweile weiss Küster: Wichtig ist es, die Ansprüche von aussen abzulegen, mehr auf die Intuition zu horchen, den eigenen Rhythmus kennenzulernen, ihn zu akzeptieren und schliesslich das Leben danach auszurichten (siehe «Verhaltenstipps für Hochsensible»). Also Pausen einzulegen, wann immer nötig, das Kind auch mal abzugeben oder im Büro die Stundenzahl zu reduzieren. «Wenn die Betroffenen ihren stimmigen Rhythmus leben können, dann sind sie sehr belastbar und können viel leisten», betont die in Altstätten SG Wohnhafte.

Sie selbst erlebt ihre Hochsensibilität vor allem beruflich als Gabe und nicht als Belastung, weil sie sich in Beratungen gut in andere hineinversetzen, ihre eigenen Gedanken gut vermitteln kann – und vor allem, weil sie den Sinn hinter ihrer Tätigkeit sieht.

Eine gesunde Balance finden

So ergeht es auch Martin Bertsch. Der 46-Jährige brennt für seine Arbeit als Coach und Berater. Wenn er eine Idee hat, bleibt es selten dabei. «Dann habe ich weitere Assoziationen, was alles möglich ist», sagt der vierfache Familienvater. Die praktischen Dinge – zum Beispiel den Kühlschrank zu füllen –bleiben dann auf der Strecke. «Eine gesunde Balance zu finden zwischen dem, was mich wirklich interessiert, und dem, was realistisch ist, ist meine grosse Herausforderung.»

Bertsch hat viel erreicht, ein Öko-Seminarhaus aufgebaut und einen erfüllenden Beruf als Coach. Trotz diesen Erfolgen und zahlreichen Weiterbildungen stellt er sich aber ständig in Frage und setzt die Latte hoch. «Das führt immer wieder zu Stress», gibt der Berner Oberländer zu.

Martin Bertsch gelingt es aber, sich nicht in grossen, teils idealistischen Ideen zu verzetteln, indem er sich immer wieder auf die kleinen Dinge im Leben fokussiert. Nach der Arbeit tollt er gern mit dem Hund herum, widmet sich den Kindern, pflegt den Garten. Antworten auf seine Frage nach dem Sinn des Lebens findet Bertsch in der Spiritualität. Und die Sicherheit, die er manchmal sucht, findet er in der Beziehung zu seiner Frau, mit der er seit 25 Jahren zusammen ist.

«Meine Frau hat etwas Unerschütterliches, sie lässt sich nicht so schnell verunsichern wie ich», sagt er. Als Bertsch auf das Thema Hochsensibilität stösst, erkennt er sich sofort wieder. Seine Suche nach Sinnhaftigkeit, seine stellenweise Überforderung, sein Ideenreichtum, sein Weltschmerz, die Selbstzweifel – all das kann er plötzlich einordnen. «Hochsensibel zu sein ist einerseits eine Gabe, anderseits eine Last», sagt er, «sowohl anstrengend wie auch sehr befruchtend.»

Laute Musik ist auf Dauer unerträglich

Evelyn Reimanns Wissen um ihre Hochsensibilität änderte derweil ihr Leben. «Ich frage mich nicht mehr ständig, was mit mir nicht stimmt», sagt sie. «Stattdessen befasse ich mich damit, wie ich meine Fähigkeiten besser einbringen kann.» Sie hat einen Roman über ihre Geschichte geschrieben, tritt nun bei Lesungen mit Harfenmusik vor Publikum auf. «Das ist immer eine grosse Kraftprobe», sagt sie, «aber unglaublich beglückend, wenn ich durch die Literatur und die Harfe etwas geben kann von meinem tiefgründigen Erleben.»

Wenn Reimann etwas stört, kommuniziert sie das heute, auch wenn es ihr noch immer schwerfällt. Ihr Umfeld weiss zum Beispiel, dass laute Musik für sie auf Dauer nicht auszuhalten ist. «Durch die Literatur und die Musik hat sich mir eine Tür geöffnet, aber es ist noch ein langer Weg», sagt Reimann. «Ich wünsche mir, dass ich mit derselben Selbstverständlichkeit, wie ich sage: Ich habe grüne Augen, auch sagen kann: Ich bin hochsensibel.»

Was bedeutet Hochsensibilität? Sind Sie hochsensibel?
  • Hochsensible nehmen innere und äussere Reize besonders intensiv wahr.
     
  • Atmosphäre, Stimmungen und Gemütslagen anderer Menschen empfinden sie speziell deutlich; Harmonie ist ihnen wichtig. Sie fühlen oft stark mit anderen mit und führen gern anregende Gespräche.
     
  • Hochsensible reflektieren gründlich, denken in grossen Zusammenhängen und sind kreativ.
     
  • Sie haben eine schmale Komfortzone in Bezug auf andauernde Sinneseindrücke: Lärm, kratzende Stoffe oder grelle Lichter werden rasch als Stress erlebt. Auch das Empfinden von Hitze und Kälte ist vielfach stark ausgeprägt.
     
  • Hochsensible sind schneller überreizt als andere, vor allem in Situationen wie Partys und Shoppingtrips oder nach einem langen Arbeitstag.
     
  • Sie brauchen meist länger, um Erlebtes zu verarbeiten; Geschehnisse können lange nachklingen.


Testen Sie sich: Der Fragebogen von zartbesaitet.net kann Anhaltspunkte liefern, ob man hochsensibel ist.

Verhaltenstipps für Hochsensible
  • Auf den inneren Rhythmus hören
    Wann bin ich leistungsfähig? Wann fühle ich mich ausgelaugt? Die eigenen Stimmungen zunächst beobachten, sie dann akzeptieren und schliesslich den Tagesablauf danach ausrichten. So arbeitet man zum Beispiel in den Morgenstunden und plant dafür am Nachmittag einen langen Spaziergang ein.
     
  • Momente bewusst wahrnehmen
    Den Gedankenkreisel unterbrechen, indem man ganz bewusst auf kleine Dinge achtet: Was esse ich gerade? Wie stehe ich auf meinen Füssen? Wie fühlt sich die Gabel in meiner Hand an?
     
  • Mit dem Umfeld über das eigene Erleben und Empfinden sprechen
    Zum Beispiel den Kollegen erklären, dass es einem nach der Arbeit zu viel ist, noch in eine Bar zu gehen – dass man aber am Wochenende gern mit dabei ist.
     
  • Auf genügend Ruhepausen und Schlaf achten und ausreichend Wasser trinken
    Das hilft beim Abbau von Stresshormonen.
     
  • Freundlich zu sich und dem Umfeld sein, (selbst-)kritische Stimmen überprüfen
    Sich wie einem Kind gut zureden, wenn man sich nicht gut fühlt, anstatt sich zu tadeln.
     
  • Auf Ruhe achten
    Wenn möglich auf einen ruhigen Arbeitsplatz achten, Rückzugsmöglichkeiten einrichten und Geräuschquellen reduzieren – zum Beispiel den Kopierer nicht gleich neben dem Pult positionieren.
     
  • Situationen der Überreizung bewusst wahrnehmen
    Wie fühle ich mich gerade? Dann versuchen, sich zu beruhigen (etwa sich ins Bad zurückziehen und dort tief durchatmen). Sich fragen: Welche Dinge haben dazu geführt, dass ich mich überreizt fühle? Und schliesslich lernen, damit umzugehen – etwa durch Entspannungsmethoden oder indem man einen kleinen Talisman dabeihat, den man in der Tasche halten kann.
Buchtipps
  • Georg Parlow: «Zart besaitet. Selbstverständnis, Selbstachtung und Selbsthilfe für hochsensible Menschen»; Verlag Festland, 2014, 248 Seiten, CHF 34.90
     
  • Brigitte Schorr (heute Brigitte Küster): «Hochsensible in der Partnerschaft»; Verlag SCM Hänssler, 2015, 224 Seiten, CHF 26.90