Es ist verständlich, dass Sie über das Attribut egozentrisch erschrocken sind. In der Tat meint der Ausdruck eine negativ bewertete Selbstbezogenheit. Egozentriker gelten als unsozial, als nicht teamfähig und als unfähig, sich in andere einzufühlen, sich anzupassen oder Rücksicht zu nehmen. Ihr Ego, das Ich, steht eben immer im Zentrum – und nie ein anderer Mensch. So sind Egozentriker unfähig zur Hingabe an andere Menschen oder an eine Sache.

Wir alle haben von Natur aus zwei Seiten. Wir haben einen starken Selbsterhaltungstrieb und sorgen zuerst mal für uns selbst. Zugleich sind wir aber auch soziale Wesen, die Beziehungen zu andern brauchen. Das hohe Niveau unserer Kultur ist nur durch Kooperation möglich – und selbstverständlich zieht uns auch die Liebe zu andern Menschen hin. Wenn jemand ein egozentrisches Leben führt, schöpft er also nicht alle Möglichkeiten des Menschseins aus.

Verliebt ins Spiegelbild

Narzissmus ist ein psychologischer Fachbegriff. Er steht für «Selbstliebe» und geht auf eine griechische Sage zurück: Narziss war der schöne Sohn des Flussgottes und genoss es, von der Damenwelt umworben zu werden. Hochmütig wies er deshalb auch die Liebe der Nymphe Echo zurück. Dafür wurde er von der Göttin des gerechten Zorns damit bestraft, dass er sich in sein Spiegelbild verliebte, das er im Wasser sah. Beim Versuch, sich mit dem Bild von sich selbst zu vereinigen, ertrank er.

Der amerikanische Psychoanalytiker Heinz Kohut hat sich intensiv mit dem Phänomen Narzissmus beschäftigt. Er unterscheidet zwischen einem gesunden Narzissmus und der narzisstischen Störung. Ein gewisses Mass an gesundem Narzissmus ist nötig für ein stabiles Selbstbewusstsein. Normalerweise mögen wir uns selber grundsätzlich. Wir kennen einige positive Eigenschaften von uns, wir wissen, was wir leisten können, wir schätzen uns, aber überschätzen uns nicht. Wenn wir in den Spiegel schauen, finden wir uns meist sympathisch.

Eine solch positive Einstellung zu uns selbst wächst durch eine einfühlende Erziehung, durch wertschätzende Eltern, Lehrer und Freunde. Der gesunde Narzissmus geht einher mit einem starken lebensfähigen Selbst, das seine Fähigkeiten erweitern und seine Bedürfnisse befriedigen will und kann, ohne andere zu überfahren. Denn, wie Sie richtig schreiben, wer sich selbst liebt, kann auch andere lieben und auf sie Rücksicht nehmen.

Die Scheu vor wirklicher Nähe

Pathologischer Narzissmus dagegen ist die Folge eines schwachen Selbst, das nur durch die Vorstellung der eigenen Grandiosität stabilisiert werden kann.

Der Spezialist Kohut geht davon aus, dass sich Säuglinge allmächtig fühlen und dass Kleinkinder auch ihre Eltern für allmächtig halten. Bei einer normalen Entwicklung werden beide Bilder realistischer. Man lernt seine Grenzen kennen und akzeptieren und man erkennt auch, dass es – ausser in Hollywoodfilmen keine allmächtigen und unverletzlichen Helden gibt. Natürlich zeigt sich in der Faszination für James Bond, Indiana Jones, Superman oder Spiderman bei vielen Leuten ein Rest dieser frühkindlichen Phantasien. Wem aber die Anpassung an die Realität grundsätzlich misslungen ist, der muss von sich selbst die Illusion aufrechterhalten, grossartig zu sein. Wird sie zerstört, fällt der Narziss in eine tiefe Depression.

In der Liebe suchen narzisstisch gestörte Menschen Partner, die sie verehren und bewundern. Eine wirklich tiefe Bindung ist ihnen unmöglich. Sie brauchen bloss den Applaus ihrer Umgebung und scheuen wirkliche Nähe. Das Showbusiness zieht Menschen mit dieser Charakterstruktur an. Für Begegnungen im Alltag ist es wichtig zu wissen, dass der erste Eindruck trügt. Narzisstische Menschen sind nicht so stark, wie sie scheinen, sie sind äusserst verletzlich. Und was nach aussen glänzt, kann sich tief im Innern klein und hässlich anfühlen.

Heinz Kohut: «Narzissmus»; Suhrkamp-Verlag, 2007, 384 Seiten, Fr. 24.90