Leserfrage: «Mein Mann leidet sehr unter seinem Übergewicht. Wenn ich helfen will, wehrt er aber heftig ab. Warum?»

Das von Ihnen beschriebene Phänomen erleben wir wohl alle. Wir möchten zum Beispiel gern, dass der Partner ein bestimmtes Ratgeberbuch liest, weil es uns gut gefallen hat und es ihm extrem guttun würde. Wir schenken es ihm, warten, lauern, haken immer wieder nach, ob er es nun gelesen hat – und werden ausgebremst oder ignoriert.

Wir kennen aber auch die andere Seite: Eine gute Freundin, die gerade einen Kurs besucht hat, liegt uns nun in den Ohren, dass wir unsere Wohnung unbedingt nach Feng-Shui gestalten müssen. Noch während sie uns damit behelligt, spüren wir zunehmend: eher nicht. Sobald sie noch näher rückt, drängt, nachfragt, nötigt, wissen wir: auf gar keinen Fall!

Die Psychologie hat diese Eigenheit menschlichen Verhaltens schon im letzten Jahrhundert erforscht. Der amerikanische Psychologe Jack W. Brehm nannte es 1966 das «Gesetz der psychologischen Reaktanz».

Es erklärt die Reaktionen von Personen, deren Handlungs- respektive Entscheidungsfreiheit bedroht ist. Das reaktante Verhalten (das ein wenig an Trotz erinnert) hat zum Ziel, diese Freiheit wiederherzustellen: «Es ist meine Wahl, und ich entscheide!» Das geschieht vor allem dann, wenn man bis dato etwas frei bestimmen konnte und nun dieses Recht von aussen beschnitten wird, also zum Beispiel eine Kleiderordnung eingeführt oder der Verzicht auf Fleisch Vegan leben Der Stachel im Fleisch moralisch nahegelegt wird.

Total unvernünftig

Erstaunlicherweise scheint das Bedürfnis nach dieser Freiheit und Selbstbestimmung so gross zu sein, dass es sich zum Teil gegen alle Vernunft richtet. Zum Beispiel, wenn die Gesundheit auf dem Spiel steht.

Perfiderweise wird die Reaktanz nicht nur dann aktiviert, wenn andere uns beeinflussen wollen. Sie kann auch in uns selbst entstehen und notwendige Veränderungen verhindern –überall da, wo man sich selbst gegenüber sittenstreng und autoritär auftritt, etwa aufgrund eines schlechten Gewissens oder eines hohen inneren Anspruchs Charakter Zu hohe Ansprüche an sich selbst? . Dann besteht die Gefahr, dass man das wie ein «Ich müsste, ich sollte» von aussen wahrnimmt. Man fühlt sich tief drin von sich selbst genötigt und eingeschränkt. Und das lässt man sich nicht bieten.
 

«Gefragt ist ein Dialog, der nicht drängt und einengt – und so keine Blockade erzeugt.»

Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin


Reaktionsmechanismen, die so tief im menschlichen Unbewussten verankert sind, lassen sich durch moralisierende Belehrungen nicht wirklich beeinflussen. All die wiederholten und vergeblichen Versuche, endlich mehr Sport Psychologie Wie wir unser Gehirn überlisten zu treiben, nicht mehr zu trinken, abzunehmen oder den Schreibtisch aufgeräumt zu halten, zeugen von der Kraft der Reaktanz.

Die beschriebenen Ansinnen (gegenüber anderen oder sich selber) sind eigentlich vernünftig und sinnvoll, werden aber trotzdem boykottiert.

Damit der Teufelskreis von Versuch und Versagen durchbrochen werden kann, braucht es einen Dialog, der nicht drängt und einengt und damit auch keinen blockierenden Widerstand erzeugt.

Eine Panikreaktion vermeiden

So warnen beispielsweise die Anonymen Alkoholiker davor, dass Sätze wie «Ich werde in meinem ganzen Leben keinen Tropfen Alkohol Alkohol Allerlei Schnapsideen mehr trinken» eine Panikreaktion erzeugen können – und damit einen Rückfall.

Stattdessen funktioniert der kleine Schritt besser («Ich verzichte auf das erste Glas»). Das suggeriert: Ich habe die Wahl und die Freiheit, das übernächste wieder zu trinken. So wird das Grundbedürfnis nach Selbstbestimmung anscheinend befriedigt, und eine Veränderung wird möglich.

Autonomie respektieren, Verantwortung zugestehen

Wir können niemanden direkt verändern. Wenn wir aber bei uns selbst oder bei unseren Partnern Verhaltensänderungen ermöglichen wollen, sollten wir aufhören zu steuern und stattdessen beisteuern.

Was ist der Unterschied? Bei beiden Varianten stelle ich Wissen, Erfahrung, Überzeugung zur Verfügung.

Wenn ich nun das Geschehen steuern will und das Ziel mit missionarischem Eifer verfolge, fühlt sich das Gegenüber entmündigt und macht dicht. Die Situation wird blockiert, die Beziehung ist belastet, und nichts ist gewonnen.

Beim Beisteuern beziehe ich auch Stellung und sage meine Meinung. Dann aber trete ich zurück und überlasse das Feld wieder der Person, die, wie zum Beispiel in Ihrem Fall, unter zu viel Gewicht leidet.

Ich respektiere die Autonomie des anderen und gestehe ihm die Verantwortung für sich selber zu.

Helfen, beraten und belehren: nur auf ausdrücklichen Wunsch!

Haben Sie psychische oder soziale Probleme?

Schreiben Sie per Mail an: psychologie@beobachter.ch oder per Post an:

Beobachter
Postfach
8021 Zürich

Wissen, was dem Körper guttut.
«Wissen, was dem Körper guttut.»
Chantal Hebeisen, Redaktorin
Der Gesundheits-Newsletter