Frage von Romy S.:

«Sobald mich jemand kritisiert oder belächelt, bin ich so verunsichert, dass ich an nichts anderes mehr denken kann. Was kann ich tun?»

Antwort von Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin:
 

Menschen gehen sehr unterschiedlich mit Kritik um. Das Spektrum erstreckt sich von «Wer mich ärgert, bestimme ich», einem Statement von Winston Churchill, bis hin zu Menschen, die sich jeweils so fühlen, wie man sie von aussen bewertet: gut bis sehr gut bei Lob und schlecht bis vernichtet bei Kritik.

Die meisten von uns bewegen sich irgendwo im Mittelfeld, abhängig von Charakter und Tagesform. Stabil und beweglich in der Mitte ist bei diesem Thema sicher eine sinnvolle Position. Denn wenn ich jede kritische Rückmeldung als unwahr oder unwichtig abschmettere, bin ich nicht konfliktfähig, und in Beziehungen hat man es eher schwer mit mir. Wenn aber mein Zustand komplett abhängig vom «Daumen hoch» des Gegenübers ist, fühle ich mich unsicher und ausgeliefert. Auch das belastet nahe Beziehungen.

Reaktion auf alte Verletzungen

Menschen mit einer deutlich erhöhten Verletzlichkeit werden bei einer Kränkung oder Beschämung von vernichtenden Gefühlen geradezu überflutet. Für ihr Umfeld ist das oft nicht nachvollziehbar. Denn obwohl die heftigen Gefühle im Hier und Jetzt ausgelöst wurden (durch einen Blick, einen Satz oder durch Selbstzweifel), liegt ihre Ursache meist in der Vergangenheit. So wie quietschende Bremsen bei jemandem, der früher einen Autounfall erlebt hat, Schweissausbrüche und Herzrasen auslösen.

Ein Kind, das von Erwachsenen oder Gleichaltrigen immer wieder beschämt und entwertet wird, erleidet Wunden, die bis ins Erwachsenenalter nachwirken. Die Zurückweisungen und Verletzungen, die man in der Vergangenheit erlebt hat, können später immer wieder durchbrechen. Besonders schnell einsetzende, intensive Gefühle sind oft ein Hinweis auf Vorerfahrungen, die hochdrängen und sich in der Gegenwart breitmachen.

Wenn jetzt eine Situation an früher erinnert, kann dies das alte Gefühl der Ohnmacht triggern (aktivieren, auslösen), und man reagiert heftiger, als es der aktuellen Situation entsprechen würde. Hinzu kommt, dass man solche Triggerreize selektiv wahrnimmt, dass sie also aus den unzähligen Informationen herausstechen und mehr Bedeutung erhalten als etwas Neutrales oder Positives. Wenn so jemand zum Beispiel einen Vortrag hält, bringt ihn eine einzige mürrisch oder schläfrig wirkende Person aus dem Publikum mehr aus dem Konzept, als die 99 aufmerksamen Zuhörer ihm Sicherheit vermitteln können.

Gefühle sind ein existenziell wichtiger Bestandteil des Lebens. Doch wir sollten unser Handeln und Entscheiden nicht nur auf sie abstützen. Denn wir fühlen nicht nur, wir denken auch, und wir wissen und nehmen wahr. Eine ausgeglichene Mischung dieser Qualitäten macht uns seelisch stabil und selbstbestimmt. Dagegen ist es leidvoll, wenn man sich permanent gekränkt fühlt. Wenn die Belastung gross ist, macht eine psychotherapeutische Unterstützung Sinn.

Das können Sie tun, um den Selbstwert-Stress zu reduzieren
  1. Achtsamkeitstraining
    Dabei lernt man innezuhalten und sein Inneres wahrzunehmen, ohne sich davon vereinnahmen zu lassen. Thematische Inputs, Gespräche und Übungen mit Elementen aus Yoga und Meditation führen zu mehr Gelassenheit. Informationen zu MBSR-Kursen (Mindfulness-Based Stress Reduction) in Ihrer Region finden Sie hier: www.mbsr-verband.ch.
     
  2. Body2Brain-Methode
    Hierbei nutzt man die Wirkung, die der Körper auf die Psyche hat. Wer etwa bewusst eine Körperhaltung einnimmt wie jemand, der sich vor nichts fürchtet, wird sich weniger ängstlich fühlen. Oder wenn ich die geballten Fäuste öffne, kann ich auch Gedanken bewusst loslassen.
  • Buchtipp
    Die Neurologin Claudia Croos-Müller erklärt in ihren kleinen Soforthilfe-Büchern Zusammenhänge zwischen Körperhaltung und der Gefühlswelt und stellt wirksame Übungen vor. Claudia Croos-Müller: «Alles Liebe. Das kleine Überlebensbuch. Soforthilfe bei Kummer, Kränkungen und weiteren Unfreundlichkeiten»; Verlag Kösel, 2016, 48 Seiten, CHF 14.90
Haben Sie psychische oder soziale Probleme? Dann schreiben Sie uns:

Christine Harzheim, Beobachter, Postfach, 8021 Zürich, christine.harzheim@beobachter.ch

Thomas Ihde, Beobachter, Postfach, 8021 Zürich, thomas.ihde@beobachter.ch

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