Den Gegenspieler des Vagusnervs kennen die meisten von uns zur Genüge: Die Waschmaschine füllen, im Kopf an der anstehenden Präsentation feilen, und immer gibt es eine Mail, die noch dringend geschrieben werden muss. Wir sind gestresst. Oder man könnte auch sagen: Wir stehen unter der Peitsche des Sympathikus.

Dieser Teil des unwillkürlichen Nervensystems bereitet unseren Organismus auf Höchstleistung vor: Blutdruck und Herzfrequenz steigen, die Durchblutung von Muskulatur und Gehirn wird hochreguliert, unser Körper setzt die Stresshormone Adrenalin und Cortisol frei. Die Verdauung aber wird gedrosselt, sie hat jetzt keine Priorität.

Denn bei Stress befinden wir uns im Kampf-oder-Flucht-Modus. Käme jetzt ein Tiger um die Ecke, wären wir parat, zu kämpfen oder zu fliehen. Hätten wir ihn dann erledigt oder zumindest abgehängt, würden wir uns erschöpft hinlegen und ausruhen. Nun käme der Parasympathikus ins Spiel: Dieser Teil des autonomen Nervensystems ist für die Erholung und Entspannung zuständig. Er programmiert unseren Körper in genau gegensinniger Weise: Er senkt den Blutdruck, verlangsamt den Puls, vertieft die Atmung und regt die Verdauung wieder an.

Der Vagusnerv

Illustration Vagusnerv

Der zehnte und längste unserer zwölf Hirnnerven führt zu allen wichtigen Organen. Er kann über die Augen, die Augenmuskulatur und den Kehlkopf stimuliert werden.

Quelle: Anatomisches Institut UZH / David Wolfer – Illustration: Andrea Klaiber

Seelischer Stress vorherrschend

Doch Sympathikus und Parasympathikus sind zwei ungleiche Brüder. Der Sympathikus muss vorherrschend sein, weil er für das Überleben zuständig ist. Der Parasympathikus dagegen hält sich vornehm zurück. Das gilt besonders für die heutige Zeit, wo wir Stress kaum noch körperlich erleben und deswegen auch die Phase der (körperlichen) Erholung fehlt, die normalerweise auf einen Kampf oder einen Dauerlauf folgt. Heute bedeutet Stress für uns meist: zu viele Dinge gleichzeitig im Kopf haben. Und nicht selten sitzen wir ihn buchstäblich aus: Im Büro starren wir mit angespannten Schultern und angespanntem Nacken und flacher Atmung auf den Bildschirm und signalisieren unserem Körper dadurch über Stunden hinweg: Achtung, Gefahr!

«Stress wird in unserer Welt als etwas Normales angesehen und hingenommen», sagt die Gesundheitspädagogin Birgit Schnack-Iorio. «Aber wenn wir so weitermachen, werden wir krank.» Beim gefährlichen chronischen Stress gewinnt das sympathische System zulasten des parasympathischen die Oberhand. Das öffnet stressbedingten Krankheiten wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Kopf- und Rückenschmerzen sowie Magengeschwüren Tür und Tor. «Der Mensch braucht Auszeiten», sagt sie. «Wir müssen uns auch im Alltag entspannen können.» Und genau dabei kann uns der grösste Nerv des Parasympathikus helfen: der Vagusnerv.

Schnack-Iorios Vater, der deutsche Präventivmediziner Gerd Schnack, entdeckte die Bedeutung des Vagusnervs für die Stressreduktion bereits in den 1960er-Jahren und entwickelte eine Methode, wie man ihn stimulieren und eine tiefe Entspannung herbeiführen kann. Seine Tochter hat nun sein letztes Buch «Die Vagus-Meditation» mit einem praktischen Teil ergänzt und herausgegeben. Sie führt seine Arbeit heute im Zentrum für Vagus-Management im deutschen Allensbach am Bodensee weiter.

Ein Nerv für alle Organe

Der Vagusnerv gehört zum autonomen Nervensystem und ist der zehnte und längste unserer zwölf Hirnnerven. Er beginnt im Stammhirn, verläuft durch den Hals, führt durch den Brustraum zu allen wichti-gen Organen und beeinflusst Herzfrequenz, Verdauung, Atmung sowie unser Befinden und unsere sozialen Kontakte. Aufgrund seines grossen Verteilungsgebiets wird der Vagusnerv auch als Vagabund unter den Nerven bezeichnet.

Das autonome Nervensystem lässt sich, wie der Name schon sagt, eigentlich nicht willentlich beeinflussen. Dass es trotzdem gelingt, haben wir einer neurophysiologischen Besonderheit zu verdanken: Der dritte, siebte und neunte Hirnnerv führen neben motorischen auch parasympathische Fasern. Das bedeutet: Jedes Mal, wenn wir diese Hirnnerven aktivieren, stimulieren wir auch den Vagusnerv und entspannen uns.

Der dritte Hirnnerv ist für die Bewegung des Auges zuständig. Wir brauchen ihn, wenn wir die Augen auf nahegelegene Objekte scharf stellen. Der siebte Hirnnerv bewegt die mimische Muskulatur um die Augen und die Muskulatur der Stirn. Er kommt zum Zug, wenn wir die Augenbrauen heben oder mit den Augen «lächeln». Der neunte Hirnnerv schliesslich steuert die Vibration des Kehlkopfs. Er ist aktiv, wenn wir singen, brummen oder summen (für Übungen siehe Infobox «Drei Übungen zum Runterkommen»).

Täglich eine Vagus-Siesta

Wenn wir nach dem Mittagessen in ein biologisches Tief geraten, empfiehlt Schnack-Iorio eine etwas längere Pause von rund 15 Minuten. «Die Vagus-Siesta versorgt uns mit der Energie, die wir brauchen, um in der zweiten Tageshälfte noch einmal durchzustarten.» Tut einem die Pause gut, kann man sie am Tag auch öfter anwenden – oder wenn man nachts nicht einschlafen kann. Auf lange Sicht handle es sich um eine Lebensstiländerung, so Schnack-Iorio, bei der es darum gehe, mehr im Vagusmodus zu leben, also «mehr bei sich zu sein und seine Ziele besser zu erreichen».

Natürlich sind diese Vagusübungen nicht der einzige Weg, um in einen entspannten Grundzustand zu finden. Auch wer sich regelmässig aufs Meditationskissen setzt, hat einen höheren Vagotonus, konnte eine Studie nachweisen. Einen Vorteil hat die auf der Basis von neurophysiologischen Erkenntnissen entwickelte Methode aber: «Wenn wir fernöstliche Meditation praktizieren, übernehmen wir religiöse Konzepte, ohne uns dessen bewusst zu sein», sagt Birgit Schnack-Iorio. «Die Vagus-Meditation hingegen ist frei von jeder Weltanschauung und somit für alle geeignet.»

Drei Übungen zum Runterkommen

Summen, schnurren, singen

Wenn der Kehlkopf vibriert, wird der neunte Hirnnerv aktiviert und damit auch der Vagusnerv. Wer während des Waldspaziergangs, am Computer oder beim Einschlafen summt, beruhigt sich gleichzeitig. Summen Sie zuerst und gehen Sie dann ins Schnurren (tiefer) über. Sie können dabei die tönenden Vokale A, O und U verwenden. Fühlen Sie, wie sich das Vibrieren des Kehlkopfs im Körper ausbreitet, und entspannen Sie sich mit den Klängen.

Augenpressur

Bei langer Bildschirmarbeit kann man den Vagusnerv zwischendurch über den dritten Hirnnerv aktivieren. Legen Sie beide Handballen auf die Jochbögen über den Augen und sanft auf die geschlossenen Augen. Dazu atmen Sie einige Minuten betont und lange aus.

Kleine Siesta

Stellen Sie einen Timer auf 15 Minuten und setzen Sie sich auf einen Stuhl, eine Parkbank oder legen Sie sich aufs Sofa. Die Umgebung sollte möglichst hell sein, damit sich die visuellen Muster vor dem inneren Auge einfacher abrufen lassen. Schliessen Sie die Augen, atmen Sie betont aus und beobachten Sie die Farben und Formen, die nach kurzer Zeit vor dem inneren Auge auftauchen. Folgen Sie den farbigen Formen und den kleinen schwarzen Punkten. Indem das Auge auf dieses Muster fokussiert, stimuliert es den dritten Hirnnerv und den Vagusnerv.

Buch und Infos

  • Die Übungen stammen aus dem Buch «Die Vagus-Meditation» von Gerd Schnack und Birgit Schnack-Iorio, Verlag Trias, 2022. Zum Buch ist eine CD erschienen.
  • Mehr Infos: www.vagus-management.de

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