Aarau ist ein beschauliches Städtchen mit hübschen Gassen. Ausserhalb des Kantons macht es kaum je von sich reden. Das war mal anders. Vor 224 Jahren war Aarau der Dreh- und Angelpunkt der Schweizer Politik: Dort wurde am 12. April 1798 vom Rathausfenster die Helvetische Republik ausgerufen – nach dem Vorbild Frankreichs. Aarau wurde Hauptstadt. 

Die Ideen der Französischen Revolution waren hier auf fruchtbaren Boden gefallen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das gefiel dem aufstrebenden Bürgertum. Man witterte die Chance, sich von den Bernern zu befreien, die über Aarau herrschten. Noch bevor die alte Eidgenossenschaft endgültig zerfiel, tanzten die Aarauer um einen Freiheitsbaum. Und so war es fast schon logisch, dass die Franzosen hier den neuen Zentralstaat gründen liessen.

Sie legten damit den Grundstein zur modernen Schweiz: Gewaltentrennung, Volkssouveränität, Rechtsgleichheit. Heinrich Zschokke, Schriftsteller, Lehrer und Beamter, brachte diese Ideen ab 1804 im «Schweizerboten» unters Volk. Er lebte ab 1818 in der Villa Blumenhalde, die heute das Zentrum für Demokratie Aarau beheimatet. Politologen, Historikerinnen und Erziehungswissenschaftler forschen hier. 

Von kurzer Dauer

Das Haus zum Schlossgarten wurde zum Regierungssitz ernannt. Weil Aarau überhaupt nicht auf so viele Beamte ausgerichtet war, plante man gleich ein neues Regierungsviertel. An der Laurenzenvorstadt sollten das Parlamentsgebäude, eine Kaserne, das Gericht, ein Theater sowie noble Wohnhäuser gebaut werden. Nur die Wohnhäuser wurden realisiert. Denn nach nur fünf Monaten wurde die Hauptstadt nach Luzern verlegt. 

Die Laurenzenvorstadt wurde dennoch zur Topadresse für reiche Bürger und Beamte. Wer in der Villa Magnolia residierte, ist nicht bekannt. Heute befindet sich dort eine Wohngemeinschaft von Menschen mit Beeinträchtigung.

Im 18. und 19. Jahrhundert bestimmten Gelehrte aus der Oberschicht das politische Geschehen. Alles Männer. Und wie hält man es in Aarau heute mit der Politik? Leute aus dem Fussvolk, die dort wirken, wo früher revoluzzert wurde? Die Hauswartin des Hauses zum Schlossgarten, die Verwaltungsassistentin des Zentrums für Demokratie und eine Bewohnerin der Villa Magnolia geben Auskunft. Alles Frauen.

«Politik ist mir zu kompliziert.»

Daniela Leutenegger, Bewohnerin der Villa Haus Magnolia

Daniela Leutenegger, 47, lebt in der Villa Magnolia in Aarau. Es ist eine Aussenwohngruppe für Menschen mit Beeinträchtigung, betrieben von der Stiftung Schloss Biberstein. Dort arbeitet sie auch in einem Teilpensum. Und sie macht Radio bei Kanal K.

Quelle: Roger Hofstetter

Wenn ich einen Tag lang die Schweiz regieren könnte, würde ich verbieten, dass bei uns ständig Leute Grümpel über den Gartenzaun werfen. Das nervt mich nämlich total.

Sonst fällt mir eigentlich nichts ein, was ich ändern möchte. Ich finde, ich kann alles machen, was Menschen ohne Beeinträchtigung auch können. Oder sogar noch mehr. Ich habe zum Beispiel eine Arbeit. Das ist nicht selbstverständlich. Wenn ich manchmal die Leute sehe, die in der Stadt herumhängen, dann bin ich froh, dass ich jeden Tag zur Arbeit fahren kann. 

Auch schon im Schloss gewohnt

Ich arbeite in der Weberei auf Schloss Biberstein und zum Teil auch noch im Kartenatelier. Früher habe ich auch im Schloss gewohnt. Seit einigen Jahren bin ich jetzt in der Aussenwohngruppe in Aarau. Das kann man nur, wenn man selbständig genug ist. Ich nehme jeden Morgen den Bus zur Arbeit.

Jeden Freitagnachmittag mache ich Radio. Ich erstelle bei Kanal K Beiträge für die Sendung «Happy Radio» und mache auch Ton und Technik. Wir sind fünf Menschen mit Beeinträchtigung. Jetzt hat einer aufgehört, und wir suchen jemand Neuen. Er oder sie muss aber selber anreisen können. Wir können nicht zuerst überall die Leute einsammeln.

In unserer Wohngemeinschaft gefällt es mir sehr gut. Es ist wie eine Familie. Wir haben alle unsere Ämtli. Das klappt aber nicht immer. Dann gibt es Diskussionen. Und vor dem Wochenende auch, wenn es darum geht, was auf den Tisch kommen soll.

Bitte nicht noch mal impfen

Für Politik interessiere ich mich gar nicht. Das ist mir zu kompliziert. Ich möchte auch nicht abstimmen und wählen gehen. Ich bin froh, dass meine Mutter und mein Bruder all diese Sachen machen, auch wenn mit der IV mal etwas ist.

Das Einzige, was mir Sorgen macht, ist, dass der Bundesrat vielleicht beschliesst, man müsse sich noch mal gegen Corona impfen lassen. Davor habe ich Angst. Aber ja, es ist dann halt so.

Das Gebäude

Die Villa Magnolia an der Laurenzenvorstadt 115 wurde 1898 errichtet. Sie gehört heute dem Gemeinnützigen Frauenverein Aarau.

«Am Föderalismus ist gut, dass nicht alle gleichzeitig Ferien haben.»

Corin Limacher

Corin Limacher, 44, ist seit drei Jahren Verwaltungsassistentin am Zentrum für Demokratie. Sie hat eine KV-Ausbildung und ist Mutter einer Tochter (17) und eines Sohnes (15). 

Quelle: Roger Hofstetter

Ich interessiere mich sehr für das politische Geschehen. Politisieren ist aber nichts für mich. Ich war einige Jahre in der Finanzkommission meiner Gemeinde. Das war eine spannende Erfahrung, aber ich bin nicht der Typ, der eine Meinung hat und die dann hartnäckig vertritt. Ich habe für viele Ansichten Verständnis. 

Das war auch bei Corona so. Ich fand es sehr schade, wie gehässig die Leute miteinander umgingen und wie plötzlich Lager entstanden sind – zum Beispiel Impfgegner gegen Impfbefürworter. Ich habe immer versucht, für beide Verständnis zu haben und neutral zu bleiben, wie die Schweiz. 

Krieg und Abstimmungen

Am Familientisch diskutieren wir ab und zu über Politik. Die älteste Tochter wird bald 18, und ihr politisches Interesse erwacht langsam. Wir diskutieren über Abstimmungsthemen und derzeit auch über den Krieg in der Ukraine und die Flüchtlingspolitik.

Für meinen Mann ist die Versorgungssicherheit ein grosses Thema. Er arbeitet in der Energiebranche. Wir haben zu Hause zum Glück Fernwärme und produzieren ausserdem eigenen Sonnenstrom.

Ich finde, wir müssen in der Schweiz aufpassen, dass wir uns nicht zu abhängig machen vom Ausland. Und ich finde, die Schweiz ist sehr grosszügig mit Spenden in die ganze Welt, wo doch auch bei uns viele Leute am Existenzminimum leben müssen. 

Ein wenig ein Luxusproblem

Der Föderalismus hat viele gute Seiten, als Familie etwa, dass nicht alle gleichzeitig Ferien haben. Manchmal ist es aber schon mühsam. Meine Kinder haben die Schulen im Kanton Solothurn besucht und absolvieren die Lehre im Aargau. Die haben ein anderes Schulstufensystem, und oft muss man erst mal erklären, welche Stufe nun welcher entspricht. 

Anderseits haben wir eine regionale Vielfalt in der Schweiz. Da ist es ja gut, dass jeder Kanton die Dinge so regeln kann, wie es auf seinem Gebiet sinnvoll ist. Es ist ein wenig ein Luxusproblem, sich über den Kantönligeist aufzuregen. Im Grunde haben wir es doch sehr gut!

Das Gebäude

Das Zentrum für Demokratie Aarau in der Villa Blumenhalde an der Küttigerstrasse 21 ist ein Forschungsinstitut, getragen von der Uni Zürich, der Fachhochschule Nordwestschweiz, dem Kanton Aargau und der Stadt Aarau.

Einst lebte hier Schriftsteller und Pädagoge Heinrich Zschokke mit Frau und 13 Kindern. Er war ein Anhänger der Französischen Revolution und wirkte als Beamter in der Helvetischen Republik.

«Hinter jeder Abstimmung steckt so viel Arbeit.»

Monika Ramseyer, Stadtweibelin von Aarau

Monika Ramseyer, 54, ist seit 2004 Hauswartin im Haus zum Schlossgarten und seit 2016 Stadtweibelin von Aarau. Sie ist gelernte Schuhtechnologin, war viele Jahre selbständig und ist Mutter einer 24-jährigen Tochter. 

Quelle: Roger Hofstetter

Das Haus zum Schlossgarten war ja das erste Bundeshaus der Schweiz. Als Hauswartin betreue ich Apéros und Sitzungen, die hier durchgeführt werden, meist von der Stadt oder vom Kanton. Ich sorge dafür, dass der Raum richtig bestuhlt ist, und auf Wunsch auch für Getränke und Sandwiches. Und natürlich putze ich, giesse die Pflanzen, jäte die Kieswege. 

Seit sechs Jahren bin ich zudem Stadtweibelin – als erste Frau in Aarau. Jeden Morgen fahre ich quer durch die Stadt, verteile die interne Post und besorge Blumensträusse für Gratulationsbesuche bei Geburtstagen ab 90 und Ehejubiläen ab 50 Jahren. Die Tour ist immer ein wenig anders. Ich muss gut planen, damit ich keine Umwege mache. Daneben übernehme ich verschiedene administrative Arbeiten im Rathaus.

Das Beamten-Klischee

Viele denken ja, so eine Verwaltung ist ein verstaubter Betrieb. Das stimmt überhaupt nicht. Ständig wird etwas umorganisiert oder im IT-System geändert. Dass Punkt zwölf Uhr alle ihre Kugelschreiber fallen lassen und zwei Stunden Mittag machen, ist ein Märchen. 

Politiker haben keine leichte Aufgabe, ich würde nicht tauschen wollen. Ich staune, wie viel diese Menschen wissen müssen. Seit ich diesen Job mache, verpasse ich keine Abstimmung. Ich sehe jetzt, wie viel Arbeit dahintersteckt. Die Vorlagen müssen geschrieben, die Abstimmungsunterlagen eingepackt und die Stimmen ausgezählt werden. Da sind so viele Leute beteiligt. Das war mir nicht bewusst. Und man weiss: Hier in der Schweiz wird nicht manipuliert. Das ist doch ein Privileg!

Gruusiges rund ums Haus

Ich war schon immer politisch interessiert, Natur und Klima liegen mir am Herzen. Wirklich schlimm finde ich das Littering. Da kann ein Abfallkübel zehn Schritte entfernt sein, aber nein, man schmeisst das halb gegessene Sandwich ins Gebüsch. Was ich rund ums Haus schon alles gefunden habe, will niemand wissen: gebrauchte Hygieneartikel, Verhütungsmittel, ganz gruusige Sachen. Auf dem WC liegt das Papier oft neben dem Kübel. Vielen fehlt einfach der Respekt für jene, die sauber machen.n

Das Gebäude

Das Haus zum Schlossgarten, Laurenzenvorstadt 3, war der erste Regierungssitz der Schweiz. Heute beherbergt es das Forum Schlossplatz mit seinen Ausstellungen und bietet Räume für Anlässe und Sitzungen. Im Dachgeschoss befinden sich zwei Wohnungen.

Dieser Artikel ist Teil der Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia».

Über die Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia»

Zum 1. August widmen wir eine Beobachter-Ausgabe ganz der Schweiz: Unsere Redaktorinnen und Redaktoren sind für «Hallo Helvetia» zu Entdeckungsreisen ausgeschwärmt und zeigen ein facettenreiches Bild unseres Landes im Jahr 2022.

Sie haben interessanten Stoff für zahlreiche Berichte gesammelt: Gespräche mit spannenden Menschen, überraschende Entdeckungen, Einblicke in aktuelle Entwicklungen und schwelende Konflikte. Es geht um Heimat und Identifikation, um Trennendes und Verbindendes.
 

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