Touristen können oft kaum fassen, wie sauber die Schweiz ist. Ausser vielleicht an der Zürcher Langstrasse.

Einsiedeln jedenfalls passt ins Vorurteil, genauso wie Willerzell am andern Ufer des Sihlsees. Nichts als Ordnung und Sauberkeit. Die eine Buchenhecke, die nicht akkurat geschnitten ist, sticht hervor wie ein weisses Schaf aus einer Horde schwarzer.

Unterhalb der Sattelegg fängt es an zu regnen, als hätte die Gegend mal wieder eine Grundreinigung nötig. Bis ich meine Regenhaut hervorgekramt habe, ist nicht nur das Zmittags-Biberli nass. So machts keinen Spass im schweizerisch perfekt getrimmten Wald. Ich renne fast den Hügel hoch.

Einmal die Woche ist nicht genug

Am nächsten Tag in Siebnen, frühmorgens um sieben ein Mensch, der putzt. Er heisst Hans Moser und bläst mit einem Laubbläser Laub und anderes vom öffentlichen Trottoir. Er muss das nicht, er tut es einem Kollegen zuliebe. Der kann altershalber nicht mehr.

«Eigentlich wäre das Aufgabe der Gemeinde. Aber die kommen nur einmal in der Woche. Bis dann fängt das Zeug schon an zu faulen», sagt Herr Moser und lässt den Bläser wieder an.

Hans Moser mit seinem Laubbläser
Quelle: Andrea Haefely

Ich folge dem Fridliweg in Richtung Niederurnen. Fridli steht für den Glarner Schutzpatron Fridolin von Säckingen. Die als Wanderweg markierte Strecke führt am südlichen Ende der Linthebene entlang.

Hier ist nicht nur geputzt, sondern sogar herausgeputzt. Störche, Pfauen, Gartenzwerge (nach wie vor Spitzenreiter), Engel, Eichhörnchen, Bambis, Wurzelwesen, Schnecken, Windräder, Feen, Kugeln, Reiher, Windmühlen, Gnomen. In allen erdenklichen Materialien, Stilen, Verwitterungszuständen. Und Kombinationen. Querbeet im Vorbeet.

Ein Blumenbeet mit Brunnen und Reiherfiguren
Quelle: Andrea Haefely

Spätestens ab Bilten führt der Fridliweg am Industriegebiet entlang. Und zwar an der Hinterseite. Was von vorn schon mässig attraktiv ist, ist hinten nicht hübscher. Es ist nicht mehr ganz so weit her mit peinlich geputzter Swissness. Auch mal Abfall, Unschönes. Allerdings ist auch der fein säuberlich geschichtet, geordnet, gehäuft.

Fridliweg nach Bilten
Quelle: Andrea Haefely

Seit Siebnen und Hans Moser kein einziger Mensch in Sicht, der irgendwo irgendetwas putzt. Einzig ein älterer Mann auf seinem aus der Zeit gefallenen Moped begegnet mir kurz nach Bilten. Er überholt mich mit einem würdevollen Nicken, 100 Meter weiter ist er schon am Ziel.

Asbest-Altlasten überall

Niederurnen. Von hier aus eroberte die Eternit AG der Familie Schmidheiny mit ihren Asbestprodukten die Welt. Von Italien über Südafrika bis Brasilien. Erobert wurden Dächer, Isolationen, Bremsbeläge, Brunnentröge, Gartensitzgelegenheiten, auch Schalttafeln. Und menschliche Lungen und Brustfelle. Dort erzeugt Asbest tödlichen Krebs. Allein in der Schweiz sind mindestens 2000 ehemalige Asbestarbeiter an den Folgen gestorben, bei einer hohen Dunkelziffer. Von der verheerenden Wirkung der Asbestfasern auf den menschlichen Körper wusste man schon seit den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Trotzdem wurde das Material in der Schweiz erst 1990 verboten.

Auch heute noch sind viele Häuser in Niederurnen mit echtem Asbest gedeckt. Kein Problem, solange das Material gebunden ist. Wenn aber die Platten und Schindeln verwittern, wie zum Beispiel am alten Kiosk am Ochsenplatz, werden die tödlichen Fasern freigesetzt. Putzen, bitte!

Ochsenplatz in Niederurnen
Quelle: Andrea Haefely

Im Zug. Zwei elfjährige Mädchen einer Klasse auf Schulreise setzten sich zu mir. Die eine: «Ich han immer no Kängurus.» Die andere: «Wotsch Pringles?» Dann mit Blick und Chips in der Hand zu mir, die Situation kurzerhand sozial aufräumend: «Möchten Sie auch eins?» – «Sie stammt aus Eritrea und ist erst seit zwei Jahren hier», sagt die Lehrerin.

Wie sauber ist Putz?

28 Kilometer vor Davos schmiegt sich das Dorf Putz an den Südhang des Prättigaus. 80 Einwohner, gegliedert in die Ortsteile Unterputz und Oberputz. Quasi der Heilige Gral des Reinheitsgebots für helvetische Siedlungen.

Das ganze Dorf ist aufgeräumt und sauber wie ein Bastelbogen. Kein krummer Grashalm stört das Prättigauer Idyll, selbst die parkierten Baumaschinen glänzen erdfrei. Auch das öffentliche WC im alten Schulhaus von 1869 ist reiner als manche Toilette eines Gourmet-Tempels. Prix-Garantie-Seife auf der einen, ein Segantini-Druck auf der anderen Seite des Raums.

Selbst die lokale Burgruine steht da, als hätt sie jemand Stein für Stein mit einer Nagelbürste geschrubbt. Perfekt ausgerichtete Stahlseile überspannen den Burghof, wohl für Sonnensegel. Die Wiese ist keine Wiese, sondern akkurat gestutzter Rasen. Dafür sorgt ein Mähroboter, der in untätigen Zeiten an der nördlichen Burgmauer parkiert. Daneben ein nagelneuer Gartenschlauch.

Ein Mähroboter auf einer Wiese
Quelle: Andrea Haefely

Wer das alles in Schuss hält, bleibt ein Geheimnis. Ausser ein paar Schulkindern und einem Ehepaar mittleren Alters, die aufs Postauto nach Davos warten, ist niemand zu sehen. Kein Besen wird geschwungen, kein Kübel Wasser ausgeschüttet. Das kann nur die Schweiz.

Ein Aschenbecher an einer Wand mit der Beschriftung "Aschenbecher benutzen!"
Quelle: Andrea Haefely

Ich freue mich ein bisschen auf die Zürcher Langstrasse. Und hoffe, dass der Sihlsee noch lange nicht seine Schleusen zum grossen Reinemachen im Unterland öffnet.

Nachtrag um der Korrektheit willen: Das Bündner Dorf Putz hat seinen Namen weder vom Putzen noch vom Schmücken. Er geht auf das lateinische Wort «puteus» zurück – für Grube, Schacht, Brunnen.

Dieser Artikel ist Teil der Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia».

Über die Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia»

Zum 1. August widmen wir eine Beobachter-Ausgabe ganz der Schweiz: Unsere Redaktorinnen und Redaktoren sind für «Hallo Helvetia» zu Entdeckungsreisen ausgeschwärmt und zeigen ein facettenreiches Bild unseres Landes im Jahr 2022.

Sie haben interessanten Stoff für zahlreiche Berichte gesammelt: Gespräche mit spannenden Menschen, überraschende Entdeckungen, Einblicke in aktuelle Entwicklungen und schwelende Konflikte. Es geht um Heimat und Identifikation, um Trennendes und Verbindendes.
 

alle Artikel von «Hallo Helvetia» auf einen Blick

Der Beobachter-Newsletter – wissen, was wichtig ist.

Das Neuste aus unserem Heft und hilfreiche Ratgeber-Artikel für den Alltag – die wichtigsten Beobachter-Inhalte aus Print und Digital.

Jeden Mittwoch und Sonntag in Ihrer Mailbox.

Jetzt gratis abonnieren