Das Rheintal lassen die meisten links liegen und donnern auf der Autobahn weiter ins Bündnerland. Auch an Buchs vorbei. Nichts deutet darauf hin, dass in diesem 11'000-Seelen-Ort ein Weltstar geboren wurde: Pipilotti Rist. Sie ist mit Videoinstallationen und Experimentalfilmen bekannt geworden, stellt in Barcelona, New York, Hongkong aus.

Eine Freundin von mir kommt ganz aus der Nähe, aus Gams. Gams grenzt an Grabs, Grabs an Buchs. Dort wohnt Anna Rist, Pipilotti Rists 85-jährige Mutter. Ihr «ötschis» für «öppis» weist untrüglich auf ihren Geburtsort Grabs hin, wie ich später lerne.

Meine Freundin hat mir so viel vom Rheintal und von seinen kreativen Menschen erzählt, dass mir das Tal zum Sehnsuchtsort wurde. Dieses Tal, Grenzgebiet zu Österreich und Liechtenstein. Am Rhein, der Anfang des 20. Jahrhunderts in einen Kanal gezwängt wurde. Dieses Tal zwischen Bodensee und Bad Ragaz. Anna Göldi, die angebliche Hexe, auch sie eine Rheintalerin aus Sennwald. Ermordet wurde sie 1782 mit dem Schwert, die letzte Hinrichtung einer «Hexe» in der Schweiz. 

Mich schauderts. Ich fahre durchs Tal, es ist heiss, die Luft flirrt. Ich bin in einem Opel unterwegs, träume mich allerdings in ein kleines Cabriolet. Ich fühle mich wie Jack Kerouac in «On the Road». Sein Ziel im Westen der USA, meins im Osten der Schweiz. «Die einzigen Menschen, die mich interessieren, sind die Verrückten, die verrückt leben, verrückt reden und alles auf einmal wollen.» Dieser Satz auf einer der ersten Seiten seines legendären Romans wird mich verfolgen. Das Rheintal ist voller grandioser Verrückter. 

Die Schweiz ist eine Insel. Das Schweizer Rheintal ist wie ein Strand. Am Strand lässt sichs immer gut leben.
      (Beni Bischof, 45, Maler, aus Widnau)

Die Landschaft des Rheintals inspiriert mich. Ich habe schon oft den immer gleichen Berg gemalt.
     (Carla Hohmeister, 49, freischaffende Künstlerin, aus Bad Ragaz)

Das Rheintal ist heute an die Welt angeschlossen – eine Gesellschaft, die in Bewegung ist, ist immer inspirierend.
     (Gardi Hutter, 69, Clownin, aus Altstätten)

Das Rheintal zeichnet sich für mich durch seine Weite und gleichzeitige Enge aus, topografisch wie auch mental.
     (Marcel Gisler, 62, Filmregisseur, aus Altstätten)

Ich empfinde das Rheintal als Chancental: Wer hier etwas auf die Füsse stellt, geht nicht in der Masse unter.
     (Doris Büchel, 51, Autorin und Herausgeberin, aus Buchs)

Die leere Zeit gefüllt

«Wer nimmt schon die Kurve zu den Türggeriblern?», fragt lachend Christoph «Criz» Züger. Türggeribel ist ein Armeleutegericht. Züger ein Portefeuiller, der tolle Ledertaschen entwirft. Auch er stammt aus Buchs, lebt heute aber in Zürich. Wie so manche Rheintalerinnen. Vielen war das Tal zu eng, zu langweilig, der Nebel, der Föhn. Aber: «Es gab genügend Raum und leere Zeit, die es möglichst kreativ zu gestalten gab. Kreieren statt Konsumieren», so hat er es erlebt. Erst als Jugendlicher habe er gelernt, dass «Ribel» Mais bedeute. 

Der Rheintaler Dialekt ist irgendwie ehrlich. Die meisten Verben enden auf «a». In jedem Dorf wird etwas anders geredet, ein Grabser erkennt eine Gamserin und einen Buchser sofort. Obwohl die Dörfer direkt nebeneinander liegen. Alemannisch reden sie alle.

Die Rebellion

Hauptstrasse, Autobahn, Damm, Rhein. Die Tankstelle an der A 13 heisst Rheintal Raststätte. Die Gasthäuser an der Hauptstrasse Krone, Kreuz und Traube. Es gibt viele Bäckereien und Metzgereien. Ich fahre zuerst nach Altstätten, der Kleinstadt mit der schönen Altstadt. Am Wegrand Geschäfte wie Jessys Reinigung, Tattoo Franz und Rhytal-Papeterie. 

In Altstätten treffe ich Floriana Frassetto, das letzte noch aktive Gründungsmitglied der Theaterkompanie Mummenschanz. Mummenschanz, dieses verrückte Maskentheater mit den knautschigen Figuren, das ohne Worte funktioniert. Weltberühmt ist es, mit jahrelangen Engagements am Broadway. Die 71-Jährige kommt gerade vom Markt, der jeden Donnerstag vor der Pfarrkirche St. Niklaus stattfindet. Im Chorbogen hängt an Ketten ein dunkles Holzkruzifix von der Decke, es soll über 600 Jahre alt sein. 

Das Rheintal, in dem ich aufgewachsen bin, ist aus einer anderen Zeit. Die Kirche gab noch den Ton an, und der war eher herrischer Art. Die Kreativität ist in der Rebellion dagegen entstanden. Kunst galt als unnötig oder sogar gefährlich in Glaubensfragen. Als Bilder kenne ich vor allem die pfeildurchbohrten und anderswie gefolterten Märtyrer aus der Kirche.
     (Gardi Hutter)

Wir fahren per Taxi ins Atelier ob Altstätten, wo Mummenschanz probt, wenn die Truppe in der Gegend ist. Riesige Räume, vollgestellt mit Utensilien, Masken, Gummirollen, Regalen, eine kleine Probebühne in der Mitte. Vor den Fenstern grasen Schafe. 

Frassetto hat nicht viel Zeit, am Nachmittag muss sie für die grosse Schweiz-Tournee zum 50-Jahre-Jubiläum in die Romandie. Die 94. Vorstellung steht an. «Porca miseria!», flucht sie, als das Taxi zu weit unten parkiert. Die Taxifahrerin kennt die Künstlerin, eine Mummenschanz-Vorstellung hat sie noch nie besucht, «das interessiert mich nicht».

Das sei hier leider so, sagt Frassetto. Auch die lokale Politik interessiere sich nicht für Mummenschanz, man habe sie noch nie zu einem Anlass eingeladen. Obwohl sie seit rund 25 Jahren in Altstätten lebt und arbeitet. Frassetto studierte in Rom, wo sie die Clowns Bernie Schürch und Andres Bossard traf und mit ihnen Mummenschanz gründete. 

Einmal habe sie im Atelier aus dem Fenster geschaut, da habe ihr Gardi Hutter aus einem Haus gegenüber zugewinkt. «Ciao, was machst du denn hier?» – «Das ist mein Elternhaus», habe Gardi geantwortet. Die beiden kennen sich aus dem Tessin, wo Hutter heute lebt und Frassetto lange gearbeitet hat.

Mehr als vermutet

Weiter gehts «on the road» via Marbach, Schloss Weinstein mit Rebberg von 1375, Rebstein, Balgach, Widnau. Die Dörfer gehen ineinander über, es ist eng hier. Die Weinberge sind schön. Ich koste einen Saxer Federweissen, einen Frümsener Roten. Gute Weine, unterschätzt wie das Rheintal. Hier ist viel mehr, als viele meinen.

Aus Balgach stammt der Popmusiker Crimer, der 2018 den Swiss Music Award «Best Talent» gewann. Aus Widnau der Maler Beni Bischof, letzte Ausstellungen in Zürich und Peking. 

Ich bin ein grosser Beni-Bischof-Fan. Ich finde, seine Kunst würde sich super für ein Plattencover eignen. Das wäre ein Traum: Cover-Art mit ihm zusammen. Er hat mal geschrieben, dass er meine Crimer-Merchandise-Socken cool findet. Ich habe mich gefreut wie ein kleiner Bub.
     (Crimer, 32, über Beni Bischof)


Mein nächstes Ziel ist Werdenberg, via Montlingen fahre ich durch Oberriet, Rüthi und Sennwald (Anna Göldi, die Hexe) zum Schloss, das über dem Städtchen thront. In der Nähe liegt die Galerie L33 von Dominik Lippuner, im oberen Geschoss eines Sportgeschäfts. Er stellt gerade Bilder von Leo Grässli aus, einem 75-jährigen Werdenberger Maler, der oft den Margelchopf gemalt hat, den 2163 Meter hohen Hausberg. 

Lippuner ist eine Urgewalt. Gross, blond, tätowiert, schwärmt er gestenreich und in breitestem Dialekt von seinem Rheintal, besonders von Werdenberg. Die Gegend hier ist lieblich, grün, eingerahmt von hohen Bergen. Weiter als das untere Rheintal. Ländlicher. 

Er fühle sich hier wohl, hier habe er seine Freunde und den Margelchopf. Lippuner, Silberkette mit Kreuz um den Hals, war schon Leistungssportler (Ski), Musiker (in der Band Be4Nothing) und Maler. Seit 2013 führt er die Galerie und macht Einrahmungen. Unter anderem für die Bad RagARTz, die alle drei Jahre durchgeführte Freiluftausstellung, die die Eltern von Künstlerin Carla Hohmeister ins Leben gerufen haben.

In der Zürcher Clubszene

Lippuner erzählt, wie er als Kind im Pool der Villa der Familie Rist schwimmen ging, wie er später als Rockmusiker durchstartete, im Club von Tom Rist (heute Musikclub Helsinki in Zürich), dem Bruder von Pipilotti Rist. Bis Ende der Achtziger der Traum vom Rockstar platzte. Er redet vom Dallas Grill, dem ersten Gyros-Laden in Buchs, von Alex Dallas’ Eltern. Alex Dallas, der griechische Rheintaler, der DJ und Clubber, der heute den legendären Club Zukunft in Zürich führt. Bekannt geworden ist Lippuners Galerie durch Ausstellungen des Malers und Skulpteurs Sandro Montonato, eines Buchser Freundes. Ein paar seiner an Giacometti erinnernden Figuren stehen im Eingang zur Galerie.

Spontan besuche ich Sandro Montonato in seinem Friseursalon in Buchs. Das GPS spielt verrückt, will mich Richtung Schaan (FL) und dann nach Feldkirch (A) schicken. Irgendwie finde ich Montonatos Geschäft, völlig verschwitzt. Ganz Gentleman, bringt er mir sofort ein kühles Mineral. Vier Tage pro Woche arbeitet er hier, den Rest widmet er der Kunst. Sein Salon ist eine Mischung aus Galerie und Werkstatt. In einer Ecke hängen seine Gitarren, davor steht eine Filmkamera, sein neuestes Hobby. «Ich bin ein Selfmademan, habe mir alles selber beigebracht», sagt er und zeigt auf seine riesigen Porträts, die wie Fotos aussehen. 

«Jede Schau besucht»

Am nächsten Tag fahre ich zu Anna Rist, der Mutter von Pipilotti und ihren vier Geschwistern. Sie empfängt mich im wild gemusterten Blumenkleid, so bunt wie ihre Wohnung. Gelbe Regale, ein blauer Plastikstuhl, knallige Patchworkgardinen. Von Tochter Tamara genäht, erzählt sie. Sie ähneln denen, die sie für eine Installation ihrer Schwester Pipilotti angefertigt hat. «Bis vor zehn Jahren habe ich jede Schau von ihr besucht, war in Madrid, Peking, Venedig.» Heute möge sie nicht mehr so, sagt die 85-Jährige. 

Die 55-jährigen Zwillinge Tamara, Textildesignerin, und Andrea, Fotografin, sind bei der Mutter zu Besuch. Tamara zeigt einen Stapel alter Postkarten. Sie erzählt die Liebesgeschichte von Verena und Alberto, die sie anhand gefundener Karten aus Mailand recherchiert hat. Filmreif. Tamara arbeitet Teilzeit für Schwester Pipilotti, führt alles Textile aus. Gerade hat sie 69 weisse Nylon-Unterhosen für eine Lichterkette für eine Ausstellung in Oslo genäht.

Alle reden durcheinander, Anna Rist tischt ihren selbst gemachten Schokoladenkuchen auf. Mir schwirrt der Kopf, aber «ötschis» muss Anna mir unbedingt noch erzählen: Sie sei seit 36 Jahren in einem Literaturzirkel. Und der Belesenste da sei ein Bauer. Der habe sogar Dänisch gelernt, um Peter Høegs Buch «Fräulein Smillas Gespür für Schnee» im Original lesen zu können. Sie erzählt vom Werdenberger Maler Leo Grässli (Ausstellung in Lippuners Galerie), von dem sie einige Bilder gekauft habe. Auch sie mag den Margelchopf. Zum Abschied schenkt sie mir eine Flasche Rotwein aus Sax. 

Ein wenig Neid

Sax, die kleine Ortschaft am Fuss der Kreuzberge. Mit der Saxer Lücke oberhalb des Dorfs, dem Passübergang zwischen den acht Chrüzbergen und den Hüsern. Dem Gratweg vom Hohen Kasten an der Lücke vorbei nach Wildhaus, meinem nächsten Ziel.

Ich bin begeistert. Von der Landschaft und den Menschen hier. Ihre Gastfreundschaft, das Duzen, das hier normal scheint, ihre Fröhlichkeit, Naturverbundenheit, Kreativität, die Liebe zur Heimat. Wunderbar. Ein klein bisschen neidisch fahre ich heim nach Zürich und danke meiner Freundin, der Rheintalerin aus Gams.

Ich sah das ganze Land plötzlich als eine Auster, die sich für uns öffnete, und die Perle war da, die Perle war da.
     («On the Road», Jack Kerouac)

Kreative aus dem Rheintal – eine Auswahl
  • Floriana Frassetto, 71, Theaterkompanie Mummenschanz, Altstätten, mummenschanz.com
  • Doris Büchel, 51, Herausgeberin, Autorin (Onepage), aus Buchs, heute in Triesenberg (LI), onepage.io
  • Pipilotti Rist, 62, Videokünstlerin, aus Buchs, lebt in Zürich, pipilottirist.net
  • Tom Rist, 56, Gründer Klub Helsinki, aus Buchs, lebt in Zürich, helsinkiklub.ch
  • Orlando Bassi, 55, Make-Up- und Perückenkünstler, Filmer, aus Buchs, lebt in Bali, atelierbassi.com
  • Christoph Züger, *1959, Portefeuiller, (Lederaccesoires), aus Buchs, lebt und arbeitet in Zürich, criz.ch
  • Marcel Gisler, 62, Filmautor und -regisseur, aus Altstätten, lebt in Berlin, swissfilms.ch
  • Manuela Helg, Textildesignerin, aus Buchs, lebt in Zürich, beige.ch
  • Carla Hohmeister, 49, freischaffende Künstlerin, gelernte Polydesignerin 3D, aus Bad Ragaz, lebt in Dietikon, carlahohmeister.ch
  • Patrick Steiger, Zeichner und Illustrator und Jürg Loser, Autor und Verleger und Musiker, tuerliverlag.ch in Montlingen 
  • Alex Dallas, Mitgründer Club Zukunft / Bar 3000, DJ, aus Buchs, lebt in Zürich, zukunft.cl/
  • Crimer, 32, Popmusiker, aus Balgach, lebt in Zürich, crimer.ch
  • Miriam Sutter, 41, Jazz-Sängerin, aus Eichberg, arbeitet in St. Gallen, wohnt in Flawil, miriammusic.ch
  • Dominik Lippuner, 55, Galerist, Musiker, Maler, Werdenberg, galerie-l33.com
  • Sandro Montonato, *1971, Maler und Skulpturist, Filmer, aus Buchs, montonato.ch
  • Kornelija Naraks, *1972, Regisseurin und Drehbuchautorin (letzter Film: Monte Verita), aus Gams, lebt in Zürich, swissfilms.ch

Dieser Artikel ist Teil der Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia».

Über die Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia»

Zum 1. August widmen wir eine Beobachter-Ausgabe ganz der Schweiz: Unsere Redaktorinnen und Redaktoren sind für «Hallo Helvetia» zu Entdeckungsreisen ausgeschwärmt und zeigen ein facettenreiches Bild unseres Landes im Jahr 2022.

Sie haben interessanten Stoff für zahlreiche Berichte gesammelt: Gespräche mit spannenden Menschen, überraschende Entdeckungen, Einblicke in aktuelle Entwicklungen und schwelende Konflikte. Es geht um Heimat und Identifikation, um Trennendes und Verbindendes.
 

alle Artikel von «Hallo Helvetia» auf einen Blick

Woche für Woche direkt in Ihre Mailbox
«Woche für Woche direkt in Ihre Mailbox»
Birthe Homann, Redaktorin
Der Beobachter Newsletter