Die Idee schlug ein wie jetzt das 9-Euro-Ticket in Deutschland: ein Bahnbillett, mit dem man einen Monat lang jede Bahnstrecke in 21 Ländern Europas bereisen konnte. Zehntausende Junge stiegen ein und nahmen den Zug.​

Der Internationale Eisenbahnverband (UIC) war gerade ein halbes Jahrhundert alt geworden und hatte sich ein Geburtstagsgeschenk ausgedacht – eine Werbeaktion für die Jungen. Sie elektrisierte eine ganze Generation.

Das war 1972. In Europa herrschte Aufbruchstimmung. Im Winter war die Wirtschaftsgemeinschaft um Irland, Dänemark und das Vereinigte Königreich von sechs auf neun Länder gewachsen, im Herbst wurde sie zur Europäischen Union. Und die Eisenbahner warben für ihr neues Ticket grossspurig mit «Völkerverständigung» und «Freundschaft zwischen den Ländern Europas». Weil die SBB beim Eisenbahnverband mitmachten, war auch die Schweiz mit dabei.
 

Ich hatte mich im Winter mit einem Schulfreund für Interrail verabredet und er im Frühling mit einem anderen Freund. Den Freund meines Freundes kannte ich nicht. Kein Drama. Wir gingen einfach zu dritt. Drei sind keine gute Konstellation. Am Ende war der Freund meines Freundes mein bester Freund – er ist es noch heute.

275 Franken kostete das Ticket, das vier Wochen Freiheit versprach – oder, nüchterner gesagt: vier Wochen Jeans, T-Shirt und Tramperrucksack. Vier Wochen ausserhalb des Radars der Eltern. Vier Wochen Kleider wechseln und waschen, nur wenn sich Gelegenheit bot.

Die Jugend traf sich in Europa, Interrail verband sie. «Die Idee dahinter ist grandios», sagte der Tourismus-Historiker Hasso Spode kürzlich der «Zeit». Interrail habe bei jungen Menschen ein Gespür für Europa geweckt: «Auch wenn sie nix anderes gesehen haben als Bahnhöfe.» Und die Zugabteile von 21 europäischen Bahngesellschaften.

Schichtweise: schlafen kreuz und quer (Deutschland, 1988)

Schichtweise: schlafen kreuz und quer (Deutschland, 1988).

Quelle: Gebhard Krewitt/Visum

Aber nicht ganz Europa nahm im Sommer den Zug. Spanier, Italienerinnen, Griechinnen und Portugiesen blieben zu Hause. Das portemonnaiegrosse Büchlein, in das man jede Zugbewegung minutiös eintragen musste, konnten sie sich nicht leisten. Es war ihnen zu teuer. Unterwegs waren vor allem Mittelschichtskinder aus Deutschland, Österreich, den Niederlanden, Skandinavien und der Schweiz. Man sprach deutsch und radebrechte englisch.
 

Nach Finnland war es weit genug, also fuhren wir hin. Von Kopenhagen bis Nordschweden 23 ¾ Stunden im gleichen Zug. Das Einzige, was sich vor dem Fenster veränderte, war die Länge der Bäume. In Boden taumelten wir hundemüde in den nächsten Park. Er hiess Killingholmen. Ich spielte mit den Zündhölzern, plötzlich brannte mein Hosensack. Ich war hellwach und der Hosensack von da an löchrig wie ein Käse.

Im ersten Jahr verkaufte sich Interrail rasend gut, 87'000-mal. So gut, dass die Eisenbahner den Werbegag zur dauerhaften Institution machten. Sie hatten den Nerv der Zeit getroffen. Interrail war zwar als Kind der europäischen Einigung geboren, doch die Jugend machte daraus ein Stück Gegenkultur. Es war die Zeit nach 68. Alles wurde in Frage gestellt. Die Wirtschaftswunderkinder waren berauscht vom Amerika der Beatniks und Hippies und deren Traum von Freiheit. Man trug lange Haare, Jeans und T-Shirt, hörte Hendrix statt Heino und Led Zeppelin statt Rex Gildo. Interrail lieferte die perfekte Bildspur zum neuen Sound.

Die Verbindung von Bahn und Protestjugend war aber keine Selbstverständlichkeit. Den Sound der Gegenkultur der 60er lieferten röhrende Motoren, ihre Rebellion roch nach Benzin. Steppenwolf, die Kultband aus Kalifornien, sang: «Schalt die Maschine an, fahr raus auf den Highway, such das Abenteuer in allem, was deinen Weg kreuzt. Born to be wi-i-ild.» In Europa aber fuhr die Jugend von da an mit der Bahn.
 

Haferflöckli in einem Dorfladen kaufen, in dem alle nur Finnisch sprechen – kein leichtes Unterfangen. Erst suchte ich allein, dann half die Verkäuferin, schliesslich der ganze Laden. Man findet alles, irgendwann. So lief damals Völkerverständigung.

Es galt das Prinzip Flatrate. Alle zahlten gleich viel. Wohin man fuhr, war egal, Hauptsache, möglichst weit weg. Reisen kannte keine Grenzen, und so landete man irgendwann an absurden Orten wie Narvik in Norwegen, Kyle of Lochalsh in Schottland, Lagos in Portugal, Kalamata in Griechenland. Warum? Weil dort Endstation war und kein Gleis mehr weiterführte.

Für einige gab es kein Halten. Etwa für Manfred Weis, aus Karlsruhe. Der Deutsche knackte im Oktober 1987 den Interrail-Rekord: 36'030 Bahnkilometer in 30 Tagen, 1201 am Tag. Das ging nur, weil Weis vorsorglich Kursbücher gewälzt, die wichtigsten Sätze in allen europäischen Sprachen notiert und Bargeld in 16 Währungen besorgt hatte. Er fuhr von Berlin ans Nordkap, via Inverness nach Lissabon, über Palermo und Athen hinauf ins finnische Oulu und zurück nach Kopenhagen. Die Reise habe er strikt nach Sehenswürdigkeiten zusammengestellt, erzählte Weis vor zehn Jahren dem «Spiegel». «Es war nie Hetze, aber ich hatte immer was zu tun.»
 

Im Zug nach Helsinki: Mitten in der Nacht wurden die Sitzplätze um 180 Grad gedreht, und alle schauten wieder in Fahrtrichtung – drei Stunden Schlaf. Die Fähre nach Stockholm: Ich verliebte mich – zwei Stunden Schlaf. Der Zug nach Amsterdam: eine Stunde Schlaf und Tränen zum Abschied. In Amsterdam im Van-Gogh-Museum eine Stunde vor den «Kartoffelfressern» meditiert (meine Version der Geschichte), in Tiefschlaf versunken (die meiner Freunde). 

Juli 1977: Zusammen mit Freunden ist unser Autor (rechts) im Zentrum der finnischen Hauptstadt Helsinki gelandet.

Juli 1977: Zusammen mit Freunden ist unser Autor Martin Vetterli (rechts) im Zentrum der finnischen Hauptstadt Helsinki gelandet.

Quelle: Privat

Geschlafen wurde, wo es Platz hatte und möglichst nichts kostete. Auf der nächsten Parkbank oder in der Bahnhofhalle. Am besten aber stieg man in den nächsten Zug und sah am Morgen, wohin es einen verschlagen hatte. 

Die Fernzüge hatten das ideale Interieur dafür: Sechserabteile, die sich mit ein paar Handgriffen in Liegeflächen verwandeln liessen. Man konnte problemlos picknicken und einigermassen bequem schlafen – wenn es einem gelungen war, das Abteil gegen andere Zuggäste zu verteidigen. Sonst schlief man halt im Sitzen, oben im Gepäcknetz, auf dem Boden oder im mit Rucksäcken vollgestopften Gang.

So wichtig wie der Trip war das Reden darüber. Man überbot sich mit wilden Geschichten. Wer nichts zu berichten hatte, war angeschmiert, hatte die Reise des Lebens gemacht und nichts erlebt. War ein Nichts.
 

Wetter wie im Bilderbuch, man sah über den Ärmelkanal bis nach Frankreich. Der Zeltplatz war halb leer, aber man wollte diesen drei Rucksackträgern partout keinen Platz geben. Ein alter Mann erbarmte sich, lud uns zu sich ein – in seine Höhle hoch über den Klippen. Die perfekte Loge für wilde Jungs. Nach der dritten Nacht war der alte Mann mit unserem halben Gepäck weg. Das Schlimmste aber war: Die Sex Pistols hatten am Abend zuvor auf dem Pier gespielt und wir das Konzert verpasst. 1977, unfassbar – noch heute.

Der Lack hielt nicht lange. «Das mythische Ticket hatte spätestens Anfang der 1980er-Jahre seinen Glamour verloren – wenn es ihn denn je gehabt hat», sagt der Luzerner Mittelalter-Historiker Valentin Groebner, der mit «Retroland» und «Ferienmüde» zwei Bücher über den Tourismus geschrieben hat. Warum? «Interrail war schon bei seiner Geburt die biedere Version der Protestkultur und wurde sehr schnell Teil der Geschichte von der kommerziellen Nutzung der Gegenkultur.» Der Weg von Revolte nach Reklame war kurz. Denn Interrail war wie Ziggy Stardust, die 1972 von David Bowie geschaffene Kultfigur. Stardust war die Pose des Protests, gleichzeitig trug er den Bazillus des Kommerzes in sich.

In den ersten Jahren hatte Interrail den Ruch des Verwegenen, aber wirklich gefährlich war es nie. «Wenn man sich nicht sehr blöd angestellt hat, konnte einem eigentlich nichts passieren. Man traf an jedem grösseren Bahnhof und in jedem überregionalen Zug andere Interrailer, die von weit her erkennbar waren», sagt Valentin Groebner. Dieselben Rucksäcke, derselbe Dresscode, dasselbe Alter.

Interrail passte auch darum so perfekt in die damalige Zeit, weil es nie den vollen Einsatz verlangte. Die Eltern fuhren mit VW, Zelt und der halben Kücheneinrichtung nach Italien, ihre Kinder nahmen den Zug nach Irgendwo. Sie mussten nicht stundenlang am Strassenrand stehen und auf eine Mitfahrgelegenheit hoffen, sondern stiegen in den nächsten Zug. Und waren weg. Das machte Interrail so sanft wie den Softrock der 1970er mit den weichen Songs von Abba bis Queen. Nervtötend waren höchstens die Traveller-Unterhaltungen, die um zwei Fragen kreisten: Woher kommst du? Wohin fährst du? Manchmal ergaben sich Freundschaften, die grosse Liebe wars nur selten.
 

Die drei Typen mit der grossen Berner Fahne auf dem Rucksack trafen wir dreimal: in Boden in Schweden, in Amsterdam, in London. Und das Einzige, was uns einfiel, war: «Ihr schon wieder?» Sie dachten, wir seien ihnen nachgereist. Wir dachten, sie seien uns nachgereist. Gesehen haben wir sie nie wieder.

Als 1989 die Mauer fiel und die Zweiteilung Europas überwunden schien, öffnete sich Osteuropa auch den jungen Bahnreisenden. Das magische Ticket hiess nun «Interrail Global Pass». Man konnte damit zwar nicht den Globus umrunden, aber immerhin 32 europäische Länder plus die Türkei bereisen. Die Erweiterung zahlte sich für die Bahngesellschaften aus. Im Rekordjahr 1991 gingen 370'000 auf die Reise.

Um die Verkaufszahlen hoch zu halten, waren schon zuvor die Altersgrenzen erhöht worden. 1976 von 21 auf 23 Jahre, ab 1979 dann fuhren Studierende bis 26 mit. 1998 öffnete man Interrail für alle Altersgruppen. Das war lange Zeit nur mässig erfolgreich. Bahnfahren war aus der Mode geraten. Wer günstig reisen wollte, buchte einen Städteflug nach Barcelona, London oder Athen.


In London nahm ich den Zug nach Schottland. Es war Stosszeit, der Waggon füllte sich. Ich wunderte mich nur, dass sich nicht auch mein Abteil füllte. Kurz vor der Abfahrt setzte sich doch noch ein Businessman zu mir, lachend. Und sagte, er habe in diesem Zug noch nie so spät einen Sitzplatz ergattert. Ich hatte frisch geduscht, aber meine Kleider rochen nach Feuer und Höhle. Ich lernte: Briten sind tolerant, auch britische Banker.

In den letzten paar Jahren hat Interrail zurück in die Spur gefunden, es verkauft sich wieder ausgezeichnet. Dank Flugscham und einer neuen alten Kundschaft erlebt es ein Comeback. Es kommen die Jungen und die viel Älteren. Aber der Mythos ist trotz dieser Renaissance tot, die Bähnler können ihn auch mit der besten Werbeaktion nicht wiederbeleben.

Längst Schluss ist auch mit dem Prinzip «In den nächsten Zug einsteigen und sehen, wo man landet», die Digitalisierung hat ihm den Todesstoss versetzt. Das Internet hat das Reisen für immer verändert, und Interrail ist nur noch ein günstiges Bahnbillett. Man löst es online, lädt die App und plant, wo man hinfährt. Die neuen Medien und die Airbnbisierung haben aufgeräumt mit der einstigen Spontaneität. Es gilt das Prinzip Planung.

Auch die Werbung hat sich ans neue Zielpublikum angepasst. Hier adrett gekleidete, junge Menschen, die fröhlich aus dem Zug lachen, da die gut gealterten Ü-60-Jährigen mit gebräuntem Teint. Denn Interrail hat rechtzeitig zu seinem 50. Geburtstag seine ersten Kunden wiederentdeckt und schaltet für sie Retrowerbung.

Vor 50 Jahren hatten sie die grosse Freiheit vor Augen, jetzt sind sie getrieben vom Traum von der ewigen Jugend. Und so kaufen sie sich ein Ticket, das perfekt zu ihnen passt. Es gilt drei Monate, man nimmt es ja etwas gemächlicher. Man fährt erster Klasse. Und die 1137 Franken für das Ticket sind ja nicht die Welt.
 

Ich schaffte es mit dem letzten Zug nach Hause und hatte gerade noch genug Geld für das Billett von Basel nach Zürich. Fürs Tram reichte es nicht mehr. Ich fuhr schwarz, wurde geschnappt. Der Kontrolleur hatte Erbarmen.

Ein Bild, das Interrailerinnen nicht kannten – leere Gänge im Zug. Espadrilles und schweres Gepäck – zwei mit Reisefieber (1995).

Ein Bild, das Interrailerinnen nicht kannten – leere Gänge im Zug. Espadrilles und schweres Gepäck – zwei mit Reisefieber (1995).

Quelle: Barbara Erni/Keystone und Ullstein/Getty Images
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