Eine Möwe stakst verloren über die Piazzetta di Capri, ich kaue auf einer Brioche herum und blinzle in die Sonne. «Noch einen Caffè?», fragt der Kellner – dann bricht die Hölle los.

Zunächst sieht man nur den Fähnrich. Seinem roten Schweisstuch, das er um einen Antennenstab gewickelt hat, trottet eine Bootsladung Touristen nach. Auf ihren T-Shirts kleben Logos des Veranstalters, in ihren Ohren stecken kleine Lautsprecher, über die sie Befehle empfangen: «In vier Stunden ist Abreise!»

Innert Sekunden füllt sich der Platz. Kein Flashmob, sondern eher ein Flashback: In Italien steht man sich wieder gegenseitig auf die Flipflops, das Reisefieber hat das Coronavirus abgelöst. Das alte Normal, es ist zurück.

Wie zum Teufel konnte das passieren?

Ein paar Monate ists her, da las man überall, dass nichts mehr so sein würde wie vorher: Waldspaziergang statt Last-Minute-Flug, Freundlichkeit statt Hektik, Delfine in Venedig. Und jetzt das! Nach zwei Jahren Rückeroberung durch die Natur holt der Mensch zum kollektiven Gegenschlag aus. Die Vorhut bilden die Kreuzfahrtschiffe, die nun wieder zahlreich in See stechen. «Kreuzfahrt-Reedereien erleben Buchungsboom» titelt das deutsche «Handelsblatt». Mehrere Anbieter frohlocken darin mit Zahlen, die sogar jene von vor der Pandemie toppen. Es scheint da einen gewissen Nachholbedarf zu geben.

Wie einst die Kreuzfahrer

Das Problem ist nicht nur das Gift, mit dem diese Kolosse die Umwelt schädigen Schmutziges Schweröl Neue Kreuzfahrtschiffe, alte Technik . Das Problem sind auch die Passagiere. Wenn Kreuzfahrer an Land gingen, verhiess das noch nie etwas Gutes – heute bringen die Touristengruppen das Elend über das Land, das sie betreten. Das Brandschatzen ist dem Souvenirhamstern gewichen, das Resultat ist dasselbe: verödete Gassen. Statt nützlicher Dinge gibt es in Capri Limoncello, Sandalen und Porzellan zu kaufen. Und für Gäste, die nicht in einer schwimmenden Kleinstadt, sondern mit der Jacht angereist sind, eine Louis-Vuitton-Tasche.

«Man muss es leider so deutlich sagen: Reisegruppen sind Spassverderber.»

Peter Aeschlimann, Beobachter-Redaktor

Und wer jetzt mit dem französischen Philosophen Jean-Paul Sartre kommt, muss nochmals über die Bücher. Die Hölle sind auf Reisen eben gerade nicht alle anderen, sondern ausschliesslich die Kreuzfahrttouristen. Sei es vor dem Busticketschalter, im Museum oder auf der Aussichtsplattform: Taucht so ein Fähnrich mit einem Trupp Lemminge auf, ist es für eine bizarre Viertelstunde vorbei mit der Ruhe.

Goethe hats vorgemacht

Man muss es leider so deutlich sagen: Reisegruppen sind Spassverderber. Kein Wunder, steht in jedem «Lonely Planet» geschrieben: «Gehen Sie bloss den Tagestouristen aus dem Weg!»

Sieben Tage, sieben Häfen. Kreuzfahrten sind wie eine Netflix-Serie, die man an einem Stück konsumiert. Ausser den paar Kilos vom All-inclusive-Buffet bleibt kaum was hängen. Goethes Italienreise dagegen dauerte fast zwei Jahre. Darin schreibt er: «Jedermann war verdriesslich und ungeduldig, wir beiden aber, die wir die Welt mit malerischen Augen betrachteten, konnten damit sehr zufrieden sein.»

Ein berühmtes Sprichwort lautet: «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.» Auf Reisen verhält es sich gerade umgekehrt: Langsamkeit zahlt sich immer aus. Im Schnellzug verschwimmt die Landschaft zur Kulisse. Flugreisende in den USA bezeichnen die Erde zwischen den Flughäfen an der Ost- und der Westküste verächtlich als «Flyover Country», als Überflugland. Dabei erfährt man auf keine andere Art mehr über Land und Leute, als wenn man sich allein auf einen Roadtrip durch die Vereinigten Staaten begibt. Hat man wie Goethe zwei Jahre lang Zeit, besser noch zu Fuss.

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