Hallo zusammen, ich begrüsse euch herzlich auf meinem Kanal. Heute werden wir wieder etwas ganz Krasses machen: Wir schauen uns an, was sich mein Sohn so alles auf Youtube anschaut und welche Stars er grad so feiert. Ich verspreche euch: Das wird voll krassss… Moment mal, ich werde ja gar nicht gefilmt, sondern sitze am Computer und schreibe einen Artikel für ein Printmedium. Ist ja auch passend mit Mitte 40. Da steht man auf ellenlange Erklärstücke in Printprodukten. Und vielleicht noch auf «10 vor 10».

Mein Sohn dagegen liebt Youtube. Besonders die deutsche Youtuber-Szene. Das nervt manchmal sehr. Denn ich teile mein Leben mit einem Wesen, das stundenlang mit Kopfhörern auf dem Sofa sitzt, in sein Handy starrt, gelegentlich grölt und auf Versuche der Kontaktaufnahme antwortet: «Nur noch dieses Video, Mama.» Doch egal, wie oft man versucht, Kontakt aufzunehmen – der Film ist nie zu Ende.

Ennet dem digitalen Mediengraben

Aber ist das überhaupt ein Problem? Lange habe ich mich darum foutiert, was sich mein Sohn da reinzieht. Weil ich es langweilig finde. Und sich Kinder von den Eltern abgrenzen müssen. 

Oder mache ich es mir mit dieser Einstellung zu einfach? Fragen wir eine Medienpädagogin: «Einem Zwölfjährigen kann man schlecht vorschreiben, welche Youtuber er abonnieren soll und welche nicht – es sei denn, es handelt sich um illegale, zum Beispiel politisch extremistische Inhalte», sagt Eveline Hipeli von der Pädagogischen Hochschule Zürich. Die Eltern sollten ihren Kindern vielmehr vermitteln, mit ihnen darüber zu reden, wenn ihnen etwas seltsam vorkomme – wie beim Social-Media-Star Logan Paul, der Suizidopfer gefilmt und das auf Youtube gepostet hat.

«Quantität sagt ja noch nichts über Qualität aus», bemerke ich. Mein Sohn lächelt müde. 

So richtig beruhigend klingt das ja nicht. Also gebe ich mir einen Ruck und springe über den digitalen Mediengraben. Ich beginne beim einzigen Video, das mir nachhaltig in Erinnerung geblieben ist. Darin stoppen die 25-jährige Youtube-Königin Bibi von «Bibis Beauty Palace» und ihr Freund Julienco die Zeit, die jeder braucht, um einer Puppe eine Windel anzuziehen – um so, na ja, herauszufinden, wer später einmal der bessere Elternteil sein wird. Klar, diese «Challenge» bestätigt alle meine Vorurteile über die heutigen kreuzbraven Jugendlichen, die sich artig aufs Kinderkriegen vorbereiten und ein Frauenbild aus den fünfziger Jahren hochhalten. Aber wie sieht das mein Zwölfjähriger?

«Bibi ist mit fast fünf Millionen Abonnenten die erfolgreichste Youtuberin Deutschlands», belehrt er mich. Das Wickelvideo habe über drei Millionen Aufrufe. Klicks sind eben die Währung seiner Generation. «Quantität sagt ja noch nichts über Qualität aus», bemerke ich. Er lächelt müde.

Die Jamie Olivers der Jungen?

Allerdings stehen Jungs eher auf Typen wie «ConCrafter Luca», der seine drei Millionen Abonnenten den «Let’s Play»-Videos verdankt. Ich stelle meinem Sohn die typische Elternfrage: «Wie kann man es spannend finden, anderen beim Gamen zuzuschauen?» – «Einem Youtube-Gamer kannst du Tricks abschauen», antwortet er. «Aber es ist auch einfach lustig, weil sie blöde Sprüche machen.» Die Videos sind für ihn so faszinierend wie für mich eine Jamie-Oliver-Kochshow. 

Heute treibt der 21-jährige Luca alles Mögliche auf seinem Kanal: Er vergleicht Original-Süssigkeiten mit Nachahmerprodukten, liest Kommentare zu seinen Vlogs (Videoblogs) vor und bewirbt seine eigene Tiefkühlpizza. Immerhin hat er das Video, das er zu deren Verkaufsstart ins Netz gestellt hat, mit «Werbevideo» überschrieben. Daran ist wohl die Abmahnwelle nicht ganz unschuldig, die letztes Jahr die deutsche Youtuber-Szene überrollt hat. So verdonnerte die Medienanstalt Hamburg/Schleswig-Holstein den Fitness-Youtuber «Flying Uwe» zu 10'500 Euro Busse, weil er Videos, in denen er eigene Produkte anpries, nicht als Dauerwerbesendung gekennzeichnet hatte.

Jugendliche sind kaum geschützt

Auch in der Schweiz muss Werbung klar erkennbar sein. Doch hier setzt man auf eine Selbstregulierungsinstanz, die keine Strafen verfügen kann. «Den Schutz der jugendlichen Zuschauer halte ich für ungenügend», sagt Thomas Meier von der Schweizerischen Lauterkeitskommission. «Aber wir können erst aktiv werden, wenn wir eine Beschwerde erhalten. Und bis heute hat sich bei uns niemand über Schleichwerbung auf Youtube oder Instagram beschwert.»

Lauterkeitskommission? Davon hat mein Ältester noch nie etwas gehört. Immerhin weiss er, warum man Youtuber auch Influencer nennt, wann diese ein Video als Werbung kennzeichnen müssen («wenn sie für das Vorstellen von Produkten bezahlt werden») und was Affiliate-Links sind («Verlinkungen zu Webshops, von denen man Geld erhält»). 

Die Nähe der Youtuber zur Werbung stört ihn nicht. In den sozialen Medien ist sie normal. Seine Aufmerksamkeit gilt vielmehr den unzähligen Trends, die auf der Videoplattform kommen und gehen. Lifehacks sind immer wieder lustig: So haben wir auch schon eine Wassermelone mit der Bohrmaschine aufgebohrt und das Fruchtfleisch zu einem Smoothie gemixt – Youtuber «Emrah» sei Dank.

Auch Pranks, neudeutsch für Streiche, sind beliebt. Wie der von «Leon Machère», der 10'000 Euro in eine Pizzaschachtel legte und filmte, wie der Pizzakurier reagiert, wenn er die Schachtel öffnet. Die Boten beteuerten natürlich fast durchgehend, das Geld gehöre ihnen: «Lass mal, das Geld ist von Laden eingepackt!» Der gute alte «Verstehen Sie Spass?»-Humor.

Bei Ekelpong werden Pappbecher mit möglichst ekligen Mixturen gefüllt. Youtuber «Rewinside»: «Wir dürfen uns jetzt echt komplett austoben, alles, was ihr grad richtig scheisseklig findet, kommt in die Becher rein. Essiggurkenwasser mit Ei-Rahm! Das ist geisteskrank!» Zwei Teams versuchen dann abwechslungsweise, einen Pingpongball in einen Becher zu werfen. Gelingt es, muss einer der Gegner das Ekel-Gebräu trinken. Grosses Gejohle.

Beim 24-Stunden-Trend lässt man sich irgendwo über Nacht einsperren. «Heute machen wir was, Digga?» – «Wir gehen 24 Stunden in Ikea, oh my God!» Auf schummrigen Aufnahmen sieht man dann, wie «ApoRed» und «Leon Machère» auf den Betten der Ikea-Ausstellung herumtoben. Eine Mutprobe ist das bestimmt. Ob es auch ein subversiver Akt gegen die Konsumgesellschaft ist?

Mein Sohn findet auch all die «In Sachen baden»-Videos ziemlich lustig. So filmte sich «KsFreakWhatElse» in «Bilou»-Duschschaum, einem Merchandising-Produkt von «Bibi», «Simon Desue» in einer Wanne voll Wackelpudding. Eins obendrauf setzte «ConCrafter Luca»: Er badete in Wasser, um seinen Fans zu zeigen, «wie dumm das ist, dass ihr Leuten zuguckt, wie sie in irgendwelchen Nahrungsmitteln baden».

Die Persiflagen folgen auf dem Fuss

Derzeit laden gerade alle Youtuber Videos hoch, in denen reagiert wird: Senioren reagieren auf Gaming-Videos, Youtuber auf ihre Kollegen. Und auf Kolleginnen wie Katja Krasavice, die im November ihren ersten Song veröffentlichte («Machs mir doggy,/ du weisst genau, ich werde schwach,/ wenn dus mir von hinten machst»). Mein Sohn teilt die Reaktion der deutschen Youtuber-Szene auf das Video des Erotikhäschens: übel, übel, übel. Mami ist beruhigt. 

Der Song wurde 15 Millionen Mal aufgerufen, er erhielt 280'000 Likes und fast doppelt so viele Dislikes. Die Suche nach Parodien liefert 15'000 Treffer. «Julien Bam» etwa hat den Song unter Einsatz von Auto-Tune nachgesungen, einem Programm, das falsch gesungene Töne korrigiert. Ein Wink mit dem Zaunpfahl.

Der 29-jährige Wuschelkopf steht bei meinem Sohn gerade hoch im Kurs. Höher als Sänger Luis Fonsi oder Fussballer Neymar. Was normal ist: Laut dem Digitalverband Bitkom sind Youtuber die liebsten Stars der Jungen. Es kommt offenbar an, dass sie ihre Fans auf Augenhöhe ansprechen, direkt mit ihnen kommunizieren und dass die Videos gratis verfügbar sind.

«Mein Sohn teilt die Reaktion der Szene: übel, übel, übel. Mami ist beruhigt.»

«Julien Bam» beherrscht das Einmaleins der Videoplattform. Er setzt Effekte ein, parodiert, persifliert. Er nimmt etwa «Bibis» peinlichen Song «Wap Bap» in zehn Musikstilen auf oder stellt die Instagram-Posen seiner Kollegen nach. Wobei sich die Katze in den Schwanz beisst. Ja, Youtube ist eine selbstreferenzielle Welt. 

Natürlich gibts auch Producer, die aus diesem Spass-Zirkel ausbrechen. Etwa der deutsche Politvlogger «LeFloid», der 2015 Angela Merkel interviewte, oder die netten Nachhilfelehrer vom «Simple Club» oder Schweizer Tuber, die ihr eigenes Ding durchziehen. Doch das ist nichts für meinen Junior. Merkel-Interview? «Langweilig.» Lernvideos? «Ich brauche keine Aufgaben-Tutorials.» Der Basler Lionel Battegay alias «Ask Switzerland»? «Öde.»

Nein, es ist wohl gerade das Selbstreferenzielle, das den Teenagern so gefällt. Uns Eltern mag das Gequatsche der deutschen Tubestars wie eine Gehirnwäsche vorkommen, für meinen Sohn ist es das Raunen der erweiterten Peergroup. Wen findet man gut? Was nicht? Mit Likes und Dislikes beantworten Jugendliche die uralte Frage nach der eigenen Identität. 

Irgendwie kennt man das alles

«Früher hat man sich mit den Stars in der ‹Bravo› verglichen und diese bewertet», sagt Medienpädagogin Hipeli. «Heute tut man das halt auch mit Klicks.» Zur «Identitätsarbeit» gehöre, eigene Grenzen auszuloten. «Pranks werden nicht nur geschaut, sondern auch nachgemacht.»

Stimmt. Erst vorgestern ertappte ich meinen Sprössling, wie er mit einem Wildfremden ein Telefongespräch führte, in dem er fünf zufällig ausgewählte Begriffe unterbringen musste (während sich sein Kollege auf dem Sofa den Bauch hielt vor Lachen). Da habe ich gern mitgelacht. Vielleicht auch, weil es mich an meine eigenen Telefonstreiche erinnerte. Wir riefen damals Leute aus dem Dorf an, gaben uns als DRS-3-Moderatoren aus und spielten mit ihnen das «Bäsefrässer»-Quiz.

Selbst einen Youtube-Kanal eröffnen will mein Grosser nicht. Auch wenn die Porsches und Villen beeindrucken, mit denen die Influencer angeben: Die grosse Bühne ist nicht sein Ding. Zudem kennt er genügend Kanäle, die weniger Abonnenten haben als eine Schulklasse Schüler.

Also alles halb so wild. Das ausufernde Youtube-Surfen versuchen wir mit brachialen Methoden in den Griff zu bekommen: Wenn es genug ist, konfiszieren wir das Handy. Mehr Freude macht aber eine andere Massnahme. Wir schauen jetzt gemeinsam mit den Kindern die «Tagesschau». Einfach um klarzustellen: Es gibt noch eine andere Welt da draussen. 

Und was hat das Experiment Youtube mit mir gemacht? Ich rege mich nicht mehr auf. Es wird eine Phase sein.

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Julia Hofer, Redaktorin
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