Einmal ist es der Finanzberater, der, mit einer Generalvollmacht ausgestattet, das Konto plündert, ein anderes Mal die Putzhilfe, die plötzlich als Alleinerbin im Testament steht.

Und immer läuft es ähnlich ab: Eine reiche, betagte Person wird dement, ist vielleicht einsam oder auf jeden Fall auf fremde Hilfe angewiesen. Die Kinder leben weit weg und kommen selten, viele Freunde sind bereits gestorben.

Also überlässt die Betagte ihre Finanzsachen dem Bankberater, die Steuererklärung der Steuerberaterin oder gibt ihr Leben in die Hände des privaten Pflegers, der sich um alles kümmert, von der Körperpflege bis zum Bezahlen der Rechnungen.

670'000 Franken für den Pfleger

Oft geht das gut. Doch manchmal verstecken sich hinter Vertrauenspersonen Erbschleicherinnen und Erbschleicher. So wie jener Krankenpfleger aus dem Thurgau, der von einer Patientin eine Liegenschaft im Wert von 670'000 Franken erbte.

Er hatte sich viele Jahre lang um sie gekümmert, war ihr Beistand, Vorsorgebeauftragter und hatte eine Generalvollmacht für alle Konten.

Sie sprach von Freundschaft und Liebe. Ihre Geschwister sahen das anders – und schliesslich auch das Bundesgericht. Es zeigte sich: Der Pfleger hat die Frau im falschen Glauben gelassen, er handle als Freund – und er war ein Wiederholungstäter. Das Erbe durfte er nicht antreten.

Wo endet der freie Wille?

Solche Urteile sind aber selten. Wer kann schon sagen, wo der freie Wille endet? Darf die Frau mit ihrem Geld nicht machen, was sie will? Wie lässt sich im Nachhinein belegen, dass sie beeinflusst wurde, dass die Freundschaft keine Freundschaft war, die Liebe keine Liebe?

«Oft münden solche Geschichten in einem Vergleich, weil das Prozessrisiko für beide Seiten hoch ist», sagt der Basler Anwalt Daniel Abt. Er ist spezialisiert auf das Erbrecht und befasst sich regelmässig mit dem Thema Erbschleicherei.

Arglist zu beweisen, ist schwierig

Rechtlich gebe es zwei Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren: Man lasse das Testament für ungültig erklären oder den Erbschleicher als erbunwürdig. Das klingt simpel, ist aber meist schwierig bis nahezu unmöglich.

«Sie müssen zum Beispiel beweisen, dass die verstorbene Person nicht nach ihrem freien Willen gehandelt hat respektive geistig dazu nicht mehr in der Lage war. Dass eine starke Abhängigkeit bestanden hat, dass der mutmassliche Erbschleicher einen grossen Einfluss wegen eines ausserordentlichen Machtgefälles hatte oder dass er arglistig gehandelt hat», sagt Abt.

Eine Vereinigung berät Betroffene

Vor Gericht steigen die Chancen, wenn es sich um sogenannte stinkende Fälle handelt. Davon sprechen Anwältinnen und Anwälte, wenn sich die Indizien für Erbschleicherei häufen.

Alarmstufe Rot gilt etwa, wenn ein betagter Mensch sozial isoliert ist und er seine Nachlassplanung kurz vor dem Tod plötzlich ändert und eine berufliche Vertrauensperson maximal begünstigt.

Im Vorteil ist auch, wer die typischen Vorgehensweisen von Erbschleicherinnen und Erbschleichern kennt und diese vor Gericht aufzeigen kann. Einer, der sich eingehend damit befasst hat, ist Felix Boller. Er hat selbst einen Fall erlebt und in Zusammenhang mit der Erbrechtsrevision die Vereinigung gegen Erbschleicherei gegründet.

Die drei Phasen der Tat

Bollers Vereinigung untersucht das Phänomen wissenschaftlich und berät Betroffene. Der Experte spricht von drei Tatphasen:

  • Anschleichen: Erbschleicher suchen sich ihre Opfer aus. Sie ziehen zum Beispiel in Gegenden mit hoher Millionärsdichte oder arbeiten in Berufen, in denen sie mit Reichen in Kontakt kommen. Als Pflegerin, guter Nachbar, Anwältin, Arzt oder Amtsperson erfahren sie schnell mehr über die persönlichen und finanziellen Verhältnisse der Zielperson.
  • Manipulieren: Als Nächstes wird diese von ihrem sozialen Umfeld abgeschnitten. «Man sagt der Zielperson zum Beispiel, Freunde und Verwandte hätten es auf ihr Erbe abgesehen. Man kontrolliert Kommunikationswege, blockt kritische Stimmen ab. Man behauptet, niemand melde sich, selber schwört man Treue. Dann baut man ein schlechtes Gewissen auf, fordert materiellen Ausgleich ein», sagt Boller. So wachse die Abhängigkeit des Opfers vom Erbschleicher. Irgendwann lande man dann beim Notar oder der Anwältin, wo das Erbe besiegelt oder eine Generalvollmacht ausgestellt werde.
  • Abschleichen: Wenn die Zielperson gestorben ist, vernichtet der Erbschleicher allfällige Beweise und verhält sich unauffällig. Der Kontakt zu den Angehörigen wird sukzessive abgebrochen.

Familiäre Abgründe – ein Alarmsignal

Die Zürcher Familien- und Systemtherapeutin Gabrielle Rütschi hat ein Buch über das Erben geschrieben und kennt dieses Muster. Erbstreitigkeiten sind in ihrer Praxis indirekt ein Thema.

Hier tun sich die familiären Abgründe auf, die sich dahinter verbergen. «Erbschleicher sehen diese Möglichkeiten und nutzen sie», sagt Rütschi. Oft dauere das Jahre und fange ganz harmlos an.

Erbschleicherinnen und Erbschleicher brauchen einen langen Atem. Doch das lohnt sich immer mehr. In der Schweiz werden jährlich rund 90 Milliarden Franken vererbt, Tendenz steigend. Gleichzeitig werden Menschen älter, geraten leichter in Abhängigkeit von Drittpersonen.

Mit dem neuen Erbrecht wurden zudem die Pflichtteile reduziert: Erblasser können nun über einen grösseren Teil des Vermögens frei verfügen. Das alles spielt Erbschleichern in die Hände. «Für mich ist das eine Form von Wirtschaftskriminalität», sagt Rütschi.

Kein Tatbestand «Erbschleicherei»

Strafrechtlich ist Täterinnen und Tätern aber schwierig beizukommen. Es gibt keinen Straftatbestand «Erbschleicherei». In Frage kommen je nach Fall Vermögensdelikte, Urkundenfälschung, Erpressung, Betrug, Freiheitsberaubung und weitere.

Anwalt Daniel Abt macht wenig Hoffnungen: «Selbst wenn der Erbschleicher für eine Straftat verurteilt wird, heisst das noch lange nicht, dass dann die rechtmässigen Erben Geld erhalten. Dafür braucht es eine Zivilklage.»

Vorstösse im Parlament

Was also tun? Abt setzt sich dafür ein, dass es bestimmten Berufsgruppen wie Anwältinnen, Notaren, Ärztinnen, Pflegepersonen, Steuer- oder Finanz- und Versicherungsberatern per Gesetz untersagt werden soll, Erbschaften und Schenkungen von Klienten anzunehmen.

Entsprechende Vorstösse wurden zwar im Parlament behandelt, haben aber bisher keinen Eingang ins Gesetz gefunden.

Experte Boller findet: Alle, die etwas zu vererben haben, sollten früh, spätestens aber mit 70, familiäre Konflikte bereinigen und ihren Tod diskutieren. Dazu gehörten auch Risiken von finanziellem Betrug im Alter.

Erst danach, so empfiehlt er, soll man einen Erbvertrag anstelle eines Testaments aufsetzen. Dieser kann, im Gegensatz zu einem Testament, nicht einseitig geändert werden.

Alle Probleme löst der Erbvertrag aber nicht. «Man kann später trotzdem ein Testament aufsetzen, das dem Erbvertrag widerspricht. Weil dieses als jüngeres Dokument erst mal gilt, müssen Benachteiligte dann wiederum prozessieren», sagt Daniel Abt.

«Wo es Geld gibt, gibt es auch Erbschleicher.»

Gabrielle Rütschi, Familientherapeutin

Therapeutin Rütschi betont, wie wichtig es sei, in der Familie miteinander zu sprechen, auch über die Nachlassplanung. Angehörigen empfiehlt sie, aufmerksam zu bleiben, Kontakt zu halten, sich nicht isolieren zu lassen.

Letztlich dürfe man sich aber keine Illusionen machen: «Wo es Geld gibt, gibt es auch Erbschleicher.»