Herr Rechsteiner, Fürsorgebehörden haben bis in die 1970er-Jahre Menschen zu Zwangsarbeit für die Industrie gezwungen. Hat der Rechtsstaat versagt?
Die administrativen «Versorgungen» von Menschen ohne Gerichtsurteil war eines der grossen Unrechte der Schweiz. Die rechtsstaatlichen Prinzipien haben für die Betroffenen nicht gegolten. Die Zwangsarbeit bei «Versorgungen» ist ein Kapitel, das noch nicht aufgearbeitet worden ist.
 

Wie meinen Sie das?
Wir kennen erst die Spitze des riesigen Eisbergs von Unrecht, das vor 1981 begangen wurde. Die Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen hat im Auftrag des Parlaments zwar die «Versorgungen» aufgearbeitet und dazu 2019 ihren Schlussbericht veröffentlicht. Aber das Kapitel Zwangsarbeit blieb unerledigt.


Was müsste jetzt geschehen?
Das unerledigte Stück Unrecht hat eine Dimension, die wir bis vor kurzem gar nicht kannten. Der Beobachter hat viel aufgedeckt. Die Zwangsarbeit, die im Zuge der «Versorgungen» stattfand, muss nun dringend gründlich aufgearbeitet werden.

Zur Person:

Rechtsanwalt Paul Rechsteiner präsidiert die Paul-Grüninger-Stiftung, die Preise für Menschlichkeit und Mut vergibt. In Bern setzte er sich als Parlamentarier vehement für eine Aufarbeitung der menschenrechtswidrigen «Versorgungen» ein. Er war SP-Ständerat und Chef des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds.

Wer sollte das veranlassen?
Der Bund müsste die entsprechenden Geldmittel zur Verfügung stellen. Ich hoffe, dass ein parlamentarischer Vorstoss eine Untersuchung der Zwangsarbeit ermöglicht. Das zuständige Justiz- und Polizeidepartement könnte aber auch von sich aus zum Schluss kommen, dass der Bericht der Expertenkommission gravierende Lücken hat.


Die Zwangsarbeit lässt sich belegen. Etwa wenn Betroffene auf ihrem AHV-Kontoauszug sehen, dass sie als «Versorgte» um ihren Lohn betrogen worden sind. Der AHV-Auszug listet dann Einkommen auf, das sie nie erhalten haben. Was hilft das?
Über die Arbeit von Verdingkindern auf Bauernhöfen gibt es wenig Verschriftlichtes. Industrien hingegen funktionieren bürokratisch und hinterlassen Spuren – auch bei der AHV. Deshalb ist es wichtig, dass jene Betroffenen, die dazu beitragen können, mit ihren AHV-Kontoauszügen helfen, konkrete Zahlen zur Zwangsarbeit hervorzubringen. Dass der Beobachter die AHV-Auszüge herangezogen hat, um die Zwangsarbeit zu belegen, ist eine grosse Innovation. Die Unabhängige Expertenkommission hat es verpasst, das zu tun.

«Es ist klar, dass die Betroffenen einen Anspruch auf Entschädigung haben.»

Sollen die Betroffenen für Zwangsarbeit entschädigt werden?
Es muss Konsequenzen haben zugunsten der Betroffenen, wenn aus ihren AHV-Kontoauszügen hervorgeht, wie viel Lohn ihnen weggenommen wurde. Es ist klar, dass die Betroffenen einen entsprechenden Anspruch auf Entschädigung haben. Zürich zahlt jetzt als erste Stadt einen Solidaritätsbeitrag von 25’000 Franken für alle Stadtzürcher Opfer von administrativen «Versorgungen». Zwar geht es eigentlich um Entschädigungen, doch ein solcher Pauschalbetrag hat den Vorteil, dass er sich rasch und unkompliziert auszahlen lässt.


Zürich zahlt. Was ist mit den anderen Gemeinden?
Zürich ist ein positiver Vorläufer. Die anderen Gemeinden oder Kantone sollten möglichst schnell nachziehen. Die Betroffenen sind heute alt. Es gibt deshalb eine Dringlichkeit des Handelns. Der Städteverband und der Gemeindeverband sind genauso gefordert wie die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren. Jene «Versorgten», die noch leben, sollen ein Stück Gerechtigkeit erfahren.

«Die Zwangsarbeit muss bekannter werden, etwa als Schulstoff. Damit es eine Sensibilität gibt.»

Was kann die Schweiz tun, damit sich so etwas nicht wiederholt?
Dass es zu dieser Zwangsarbeit kommen konnte, hat mit der Rechtlosigkeit der Betroffenen zu tun. Diese Problematik begleitet uns bis heute. Besonders betroffen sind in der Schweiz Migrantinnen als Haushaltshilfen und bei der Pflege rund um die Uhr. Die Zwangsarbeit muss bekannter werden, etwa als Schulstoff. Damit es eine Sensibilität gibt. Damit man hinschaut, wenn es Leute gibt, die unten sind, die im Schatten sind, die wenig Rechte haben.

Aufruf: Beweise für Zwangsarbeit gesucht

Wurden Sie von den Behörden vor 1981 administrativ «versorgt»? Durften Sie keine Lehre machen und mussten stattdessen bei einer Privatfirma arbeiten für ein Sackgeld? Dann melden Sie sich bitte beim Beobachter. Alle Angaben werden vertraulich behandelt.

Wir suchen Belege für die finanzielle Ausbeutung von «Versorgten» durch Industrie und Gewerbe. Und dabei kann Ihr AHV-Kontoauszug ein wertvoller Beweis sein.

Der AHV-Kontoauszug enthält üblicherweise alle Löhne, die Sie ab dem 18. Altersjahr verdient haben. Selbst dann, wenn Sie von diesem Geld nie etwas erhalten haben. Die AHV sammelt die Lohndaten, um zu berechnen, wie hoch Ihre AHV-Rente ist.

Wer in einem Fabrikheim «versorgt» worden ist oder in einer Anstalt mit externer Beschäftigung, kann uns möglicherweise mit seinem AHV-Kontoauszug wertvolle Hinweise liefern. Der AHV-Kontoauszug kann bei jeder AHV-Ausgleichskasse gratis bestellt werden.

Bauern haben üblicherweise der AHV nichts gemeldet. Für «Verdingkinder» und anstaltsinterne Arbeitstätigkeiten taugt der AHV-Kontoauszug deshalb in der Regel nicht als Beweis.

Bitte wenden Sie sich an: Redaktion Beobachter, «Zwangsarbeit», Flurstrasse 55, Postfach, 8021 Zürich, zwangsarbeit@beobachter.ch, Telefon 058 269 20 91