Gesunder Ausgleich
Alles wird bewertet – nur die wichtigen Dinge nicht, findet unser Autor. Diesmal widmet er sich einer faulen Sache.
Veröffentlicht am 29. November 2024 - 15:15 Uhr
Vor einigen Jahren kämpfte ich mit Stress und kam vor lauter Arbeit kaum zum Schlafen. Also bat ich meine Vorgesetzte um Hilfe. Statt mir Aufgaben abzunehmen, schlug sie vor, ich solle Yoga machen. Als Ausgleich.
«Die Flache-Erde-Anhängerin erhält gleich viel Redezeit wie die Physikerin.»
Patrick «Karpi» Karpiczenko wird als Komiker, Autor und Regisseur oft kritisiert. Hier aber verfasst er die Kritiken.
Politische Diskussionssendungen im Fernsehen haben die Tendenz, allen Seiten gleich viel Platz einzuräumen – egal, wie absurd das Thema oder wie unvernünftig das Argument auch ist.
Zur Person
Die Flache-Erde-Anhängerin erhält gleich viel Redezeit wie die Physikerin – damit die Sendung ausgeglichen wirkt.
Um meinen Langstreckenflug zu kompensieren, habe ich im Garten einen Komposthaufen angelegt. Dort entsorge ich nebst meinem schlechten Gewissen auch die Grünabfälle und helfe so, meinen ökologischen Fussabdruck auszugleichen.
Das Verständnis von Moral
Ob im Beruf, im Fernsehen oder bei Umweltfragen – es fühlt sich intuitiv richtig an, wenn Dinge im Lot sind. Ausgleichende Gerechtigkeit und Karma sind Konzepte, die an unser Verständnis von Moral appellieren.
Sowohl im Grossen wie im Kleinen: So fühlt sich ein Moitié-Moitié-Fondue wie ein vernünftiger Kompromiss an, während ein pures Vacherin-Fondue bereits nach Dogma riecht.
Bei greifbaren Dingen wie Ernährung oder Sport ergibt dieses Ausgleichsdenken Sinn. Wer einmal eine Woche lang nur Fleischvogel gegessen und Rumpfbeugen gemacht hat, weiss das.
Nur weil meine Tochter ihren Znacht aufisst, hilft das den «hungernden Kindern in Afrika» kein Stück.
Wenn es um unseren Körper geht, ist Moderation das A und O. Doch sobald es um komplexe Dinge geht wie Demokratie, Wissenschaft oder Kunst, wird dieses Prinzip zur Falle.
Nur weil in Ghana Bäume gepflanzt werden, kompensiert das noch lange nicht die gerodeten Bäume in Brasilien. Nur weil meine Tochter ihren Znacht aufisst, hilft das den «hungernden Kindern in Afrika» kein Stück. Und als Komiker weiss ich, dass ein halber Witz nicht halb lustig ist, sondern gar nicht.
Unser Ausgleichsfetisch
Unser Bedürfnis nach Ausgleich ist so stark, dass es leicht instrumentalisiert werden kann. Ein Konzept wie die Work-Life-Balance impliziert nicht nur, dass Arbeit und Leben unterschiedliche Dinge sind, sondern auch, dass beide den gleichen Stellenwert haben.
Der Begriff «ökologischer Fussabdruck» lässt uns glauben, wir hätten ein persönliches Umweltkonto. Eines, das wir nach Belieben wieder auffüllen können.
Statt echte Probleme anzugehen, verharren wir in einem Zustand der Wohlstandsstarre.
Doch die Welt ist kein Kräutergarten, in dem jede Pflanze gleich viel Wasser braucht. Manche Themen erfordern volle Aufmerksamkeit, andere kann man getrost ignorieren.
Und genau hier wird unser Ausgleichsfetisch gefährlich: Er lähmt uns. Statt echte Probleme anzugehen, verharren wir in einem Zustand der Wohlstandsstarre.
Meine Bewertung für einen gesunden Ausgleich: ☆☆☆☆☆