Nach dem Klimaseniorinnen-Urteil in Strassburg gehen die Wogen hoch. Kritisiert wird, dass «fremde Richter» in die Klimapolitik eingreifen, diese sei jedoch Sache des Gesetzgebers und somit von demokratischen Volksentscheiden. 

Wie es danach konkret weitergeht, lässt sich so früh natürlich nicht sagen. Genauso wenig wie beim Urteil, das ebenfalls der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Februar gegen die Schweiz wegen rassistischer Polizeikontrollen verhängte

Wie haben sich Urteile des Menschenrechtsgerichts in der Vergangenheit ausgewirkt? Noch bevor die Schweiz 1974 die Europäische Menschenrechtskonvention verspätet ratifizierte, bewirkte diese hierzulande schon Gesetzesänderungen. Man musste nämlich noch das Frauenstimmrecht durchbringen. Viele Urteile aus Strassburg haben zum Beispiel auch den Schweizer Straf- und Massnahmenvollzug geprägt. Das Gericht beschäftigte sich mit unrechtmässigen Verwahrungen oder stellte fest, dass die Überprüfung eines Haftentlassungsgesuchs zu lange dauerte, oder stützte das Schweizer Bundesgericht im Entscheid, dass Gefangene auch im Pensionsalter ihre Arbeitspflicht erfüllen müssen und dass das keine Verletzung des Verbots von Sklaverei und Zwangsarbeit ist. 

Weitere bekannte Beispiele: 

Asbestopfer

Die Witwe von Hans Moor, der wegen jahrelanger Arbeit mit Asbest an Lungenkrebs gestorben war, blitzte vor allen Schweizer Instanzen mit ihrer Forderung nach Schadenersatz ab. Der Grund: Der Fall sei mittlerweile verjährt. Mit dieser Rechtsprechung hätten die meisten Asbestopfer jedoch kaum Chancen auf Schadenersatz, weil die Krankheiten erst 20 bis 40 Jahre nach dem Kontakt mit Asbest auftreten. 2014 urteilte der EGMR, dass die Schweiz wegen der starren Interpretation der Verjährungsfrist das Recht auf ein faires Verfahren verletzt habe. 

Das Urteil führte dazu, dass der Bundesrat die Gründung eines Entschädigungsfonds für Asbestopfer anstiess und das Parlament das Gesetz änderte. 2018 einigte es sich darauf, die Verjährungsfrist von 10 auf 20 Jahre zu verlängern. Das Gesetz gilt seit 2020. Doch diese Frist reicht nicht für alle Opfer, denn einige wissen erst viel später von ihrer Erkrankung. Im Februar 2024 stellten die Richter in Strassburg in ihrem Urteil zu einem anderen Schweizer Asbestfall fest, dass die Schweiz das Recht der Hinterbliebenen auf ein faires Verfahren verletzt hat. Auch bis zu 45 Jahre nach dem Kontakt könnten durch Asbest verursachte Krankheiten auftreten. Das müsse bei der Festlegung der Verjährungsfrist berücksichtigt werden. Die Schweiz müsse die Klage der Hinterbliebenen des Asbestopfers deshalb neu beurteilen. 

Witwerrente

Bis vor kurzem galt, dass Witwen lebenslang eine Rente erhielten, Witwer hingegen nur, bis das jüngste Kind volljährig wird. Der Appenzeller Witwer Max Beeler klagte erfolgreich bis nach Strassburg dagegen an. 2022 bekam er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte recht. Das sei eine unzulässige Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, befand es. 

Das Urteil gegen die Schweiz könnte jetzt aber dazu führen, dass es nicht nur bei Männern Verbesserungen gibt, sondern auch bei Frauen Verschlechterungen. Der Bund sieht nämlich die Möglichkeit für Einsparungen und für zeitgemässe Anpassungen. Ein entsprechender Vorschlag des Bundesrats war bis vor kurzem in der Vernehmlassung und kommt noch ins Parlament. 

Meinungsäusserungsfreiheit, Pressefreiheit, Quellenschutz

Es gibt viele Urteile des EGMR zur Medienfreiheit, zahlreiche Medienschaffende klagten bis nach Strassburg. Zum Beispiel eine Journalistin, die in der «Basler Zeitung» über einen Cannabis-Dealer berichtet hatte und von der Staatsanwaltschaft dazu aufgefordert worden war, Informationen über ihn preiszugeben. Sie verweigerte die Aussage, der Gerichtshof in Strassburg gab ihr am Schluss recht

Die Menschenrechtsorganisation Humanrights.ch findet ein Urteil besonders wichtig für die Schweizer Meinungsfreiheit: Die kritische Reportage eines Westschweizer Dokumentarfilmers über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg wurde 1997 nach einer Klage als einseitig befunden und durfte nicht mehr ausgestrahlt werden. Der EGMR entschied schliesslich, dass damit die Meinungsfreiheit verletzt worden sei. 

Nicht nur Urteile gegen die Schweiz entfalten hierzulande Wirkung: Ein Leitentscheid von 1996 gegen Grossbritannien führte dazu, dass auch der Schweizer Gesetzgeber den Quellenschutz fortan garantierte und ihn ins Strafgesetzbuch aufnahm.

Wehrpflichtersatz

Ein Diabetiker wollte Militärdienst leisten, wurde aber für untauglich erklärt und sollte Ersatz zahlen. Dagegen klagte sein Vater bis nach Strassburg und bekam recht: Das Gericht befand es als diskriminierend – auch gegenüber Dienstverweigerern, die Zivildienst leisten dürfen. Seither muss das Militär Männern mit einer leichten Behinderung die Wahl zwischen Ersatzzahlungen oder einer geeigneten Funktion in der Armee lassen. 
 

Weitere Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Hier finden Sie weitere Informationen:

    •   Liste aller Schweizer Fälle auf der Website Humanrights.ch
    •   Informationen zur Rechtsprechung des EGMR auf der Seite des Bundesamtes für Justiz