Die Kritik war gross, als die Kunstsammlung Bührle im Oktober 2021 im Kunsthaus erstmals gezeigt wurde. So gross, dass die neue Kunsthausdirektorin Ann Demeester die umstrittene Ausstellung überarbeiten liess. 

Neu sollte im Kunsthaus Zürich nicht mehr beschönigt werden, dass es Emil Bührles Kunstsammlung ohne den Holocaust so nicht geben würde. Denn Bührle kaufte auch Raubkunst und Fluchtgut. 

Klartext zu «Ausbeutung und Investitionen»

Das Kunsthaus thematisiert in seiner neuen Schau zudem erstmals die Recherchen des Beobachters. Sie zeigen, wie in der Nachkriegszeit «versorgte» junge Frauen in Bührles Textilfabrik Zwangsarbeit verrichten mussten. Wie sie als «Fabrikmädchen» in der Industrie behandelt wurden, gleicht in vielerlei Hinsicht der Behandlung der Verdingkinder in der Landwirtschaft.

Im elften Raum der Ausstellung wird das gezeigt. Hier wird Bührles Handeln im Jahr 1954 unter dem Titel «Ausbeutung und Investitionen» thematisiert. Die Textilfabrik der Bührles in Dietfurt im Toggenburg habe Zwangsarbeiterinnen eingesetzt, steht auf der Wand neben den Gemälden. «Bührle profitiert von der staatlich geduldeten Ausbeutung dieser Arbeitskräfte, gleichzeitig profiliert er sich als Mäzen des Kunsthauses Zürich.»

Die behördlich erzwungene Fabrikarbeit zugunsten von Industriellen sei schon damals unzulässig gewesen, schreiben die Ausstellungsmacher: «Obwohl Zwangsarbeit seit 1941 verboten ist, werden bis Mitte der 1970er-Jahre zahlreiche junge Frauen von den Gemeindebehörden ohne Gerichtsurteil zur Arbeit in verschiedenen Fabriken gezwungen. Sie erhalten höchstens bescheidene Löhne und leben als ‹Versorgte› im Fabrikheim.» 

«Das Problem ist eines der Gegenwart und nicht der Vergangenheit».

Erich Keller, Historiker

In einem weiteren Ausstellungsraum sprechen 19 Befragte in Videos über Bührle und dessen Kunstsammlung. Historiker Erich Keller sagt: «Das Problem ist eines der Gegenwart und nicht der Vergangenheit.» Bührle habe von Zwangsarbeit im Schweizer Fürsorgesystem profitiert, wie man von den Artikeln des Beobachters wisse. Und die Bührle-Erben hätten sich bis heute weder dazu geäussert noch eine finanzielle Wiedergutmachung in Aussicht gestellt. 

Hinschauen in Zürich, wegschauen im Appenzellerland

In Zürich setzt sich inzwischen nicht nur das Kunsthaus kritisch mit der Zwangsarbeit für Industrielle auseinander, sondern auch die Stadt. Sie hat dazu eine Studie in Auftrag gegeben und entschädigt Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen mit 25’000 Franken aus der Gemeindekasse. 

Doch das Problem der Zwangsmassnahmen beschränkt sich nicht auf Zürich. So gab es etwa im Kanton Appenzell Ausserrhoden zwei Fabrikheime, die ähnlich funktionierten wie jenes von Emil Bührle. Vor Ort, in den kleinen Gemeinden Lutzenberg und Walzenhausen, interessiert das aber wenig. Die Ausserrhoder Kantonsbehörden klärten zwar ab, ob sie eine Studie zur Zwangsarbeit in Privatheimen in Auftrag geben wollen. Das war vor eineinhalb Jahren. Geschehen ist seither nichts. 

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Schweizer Zwangsarbeiterinnen
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Aktuell sei von Seiten des Kantons keine Aufarbeitung geplant, sagt ein Regierungssprecher. «Da es damals keine kantonale Heimaufsicht gab, verfügt der Kanton auch nicht über ein Archiv dazu.» Aufgrund der mangelnden Datengrundlage sei eine Aufarbeitung nur gemeinsam mit den zuweisenden Kantonen, primär dem Kanton Zürich, und der Industrie möglich. Eine solche Aufarbeitung ist aber nicht in Sicht.

Neue Details über die Geldflüsse 

Derweil kommen zu einzelnen Heimen immer mehr Details ans Licht – aufgrund des jüngsten Aufrufs des Beobachters zur Zwangsarbeit. Die «Versorgte» Karin Gurtner war von 1976 bis 1977 im Lärchenheim Lutzenberg in Appenzell Ausserrhoden untergebracht. Damals hiess sie Karin Hefty. Sie musste dort unter anderem in der hauseigenen Werkstatt Strickmaschinennadeln bearbeiten für die Neuenburger Textilmaschinenfirma Edouard Dubied & Cie. 

Aus den Unterlagen geht hervor, dass junge Frauen wie Karin Gurtner für diese Arbeit lediglich rund Fr. 4.50 pro Stunde erhalten haben. Doch das Geld wurde Karin Gurtner nie direkt ausbezahlt. Es ging an die Heimverwaltung. Das Heim benutzte den Lohn, um damit Arztkosten oder Krankenkassenprämien von Karin Gurtner zu begleichen. Nach dem Heimaustritt erhielt die Insassin nur rund die Hälfte des mickrigen Lohns auf ihrem Sparheft gutgeschrieben. 

Und: Nur auf diesen Restbetrag zahlte das Lärchenheim AHV-Beiträge für Karin Gurtner ein, wie der AHV-Kontoauszug belegt. Das staatlich subventionierte Heim unterschlug mit dieser Praxis einen grossen Teil des Lohnes gegenüber der AHV. Ein Vorgehen, das damals wie heute unzulässig ist. Denn diese Praxis kann dazu führen, dass Betroffene später eine tiefere Rente erhalten.