«Dieses Mass an Macht wollten wir nie»
Zum dritten Mal verleiht der Beobachter den Negativpreis «Fehlbefehl», um auf rechtsstaatliche Mängel bei Strafbefehlen aufmerksam zu machen. Zum ersten Mal stellt sich der höchste Strafverfolger der Kritik.
«Wer Menschen die Freiheit nehmen kann, trägt viel Verantwortung»: St. Galler Staatsanwalt Christoph Ill
Schludrige Strafbefehle können jeden und jede treffen. Pro Jahr werden in der Schweiz an die 100’000 Strafbefehle ausgesprochen, es wird im Schnitt also jede neunzigste Person mindestens einmal bestraft. In mehr als 90 Prozent aller Vergehen und Verbrechen entscheidet nicht ein Gericht, sondern ein Staatsanwalt oder eine Staatsanwältin. Also jemand, der den Fall selbst untersucht hat und daher nicht ganz unabhängig ist.
Und die Belastung dieser Staatsanwältinnen und Staatsanwälte steigt: weil die Fälle zunehmen, sie aber nicht mehr Ressourcen erhalten. Bagatellfälle müssen daher schnell vom Tisch. So sind Fehlurteile programmiert.
Hinzu kommt noch, dass das Strafbefehlsverfahren selber Mängel hat. Das zeigen ein Nationalfonds-Projekt und auch ein neues Buch von Strafrechtsprofessor Marc Thommen («Der Staatsanwalt als Richter»). So ist die Einsprachefrist sehr kurz, Betroffene befürchten hohe Kosten und verstehen häufig nicht einmal, worum es geht.
Aus all diesen Gründen verleiht der Beobachter seit drei Jahren den Negativpreis «Fehlbefehl» und weist hartnäckig auf die Missstände hin, die in einem Rechtsstaat nicht haltbar sind. Erstmals nimmt nun auch der oberste Strafverfolger der Schweiz Stellung: Christoph Ill, der Präsident der Schweizerischen Staatsanwaltschaftskonferenz (SSK).
Herr Ill, der Beobachter verleiht nun zum dritten Mal den «Fehlbefehl». Bislang hat die SSK nie Stellung zu diesem Negativpreis genommen. Werden Sie nicht gern kritisiert und mit der zweifelhaften Macht der Staatsanwaltschaft konfrontiert?
Ich habe keine Mühe, darüber zu sprechen. Es ist richtig: Wer Menschen die Freiheit nehmen kann, trägt viel Verantwortung. Doch etwas will ich klarstellen: Es waren nie die Staatsanwaltschaften, die in den Strafbefehlsverfahren dieses Mass an Macht wollten. Es war der Gesetzgeber, der das Strafbefehlsverfahren so ausgestaltet hat.
Zur Person
Heute können Staatsanwälte jemanden für bis zu sechs Monate ins Gefängnis bringen. Fachleute kritisieren das. Freiheitsstrafen dürften nur von Gerichten verhängt werden. Was sagen Sie dazu?
Wenn man jetzt kritisiert, dass das Strafbefehlsverfahren nicht rechtsstaatlich ist, dann hätte man das im Gesetzgebungsverfahren einbringen müssen. Solange es keine Gesetzesänderung gibt oder das Bundesgericht keine andere Praxis vorschreibt, ist es nicht an uns Staatsanwaltschaften, sich über das geltende Recht hinwegzusetzen. Das wäre schlicht undemokratisch.
Was würden Sie am Strafbefehlsverfahren ändern, wenn Sie könnten?
Ich würde nichts ändern – zumindest nicht unter den Umständen, wie sie heute sind. Wenn man die Kritik aufgreifen und Forderungen umsetzen wollte, bräuchte es mehr Personal. Derzeit müssen wir um jede Stelle kämpfen. Ohne ausreichend Personal wäre ein Ausbau des Strafbefehlsverfahrens schlicht gefährlich.
Gefährlich? Wie meinen Sie das?
Ganz einfach: Wenn man das Strafbefehlsverfahren ausbaut – zum Beispiel mehr Einvernahmen macht –, dann bedeutet das, dass man die bestehenden Ressourcen vermehrt dort einsetzen muss. Man müsste seine Kräfte also in den Bereich der Bagatelldelikte verschieben. Und damit fehlen sie automatisch anderswo. Wenn die Bevölkerung dann das Gefühl bekommt, dass die wirklich schweren Straftaten nicht mehr oder nur noch ungenügend aufgeklärt werden, hat der Rechtsstaat ein grosses Problem.
«Es ist für jeden schlimm, wenn er zu Unrecht verurteilt wird.»
Christoph Ill, oberster Strafverfolger der Schweiz
Sie wollen also nichts ändern. Dann muss man im Strafbefehlsverfahren Abstriche bei der Rechtsstaatlichkeit und Fehlurteile in Kauf nehmen?
Es ist für jeden schlimm, wenn er zu Unrecht verurteilt wird – unabhängig davon, ob es sich um eine Bagatelle oder um eine schwere Straftat handelt. Fehlurteile müssen verhindert werden. Aber es ist wichtig, dass wir unsere knappen Ressourcen hauptsächlich dort einsetzen können, wo hochwertige Rechtsgüter betroffen sind. Und das ist nun mal nicht der Bereich der Bagatelldelikte. Zudem: Wer mit dem Strafbefehl nicht einverstanden ist, kann einfach Einsprache erheben.
Tatsache ist, dass nur in 5 bis 13 Prozent der Fälle Einsprache erhoben wird. Viele Betroffene haben Angst vor den Kosten. Das läuft doch auf eine Klassenjustiz hinaus.
Man könnte das ganz einfach lösen. Indem man sagt, dass jeder, der in einem Strafverfahren ist, Anspruch auf eine Verteidigerin hat – egal, wie schwer der Vorwurf ist. Und wer kein Geld hat, bei dem übernimmt der Staat die Kosten. Das ginge alles. Aber der Gesetzgeber hat sich anders entschieden. So gibt es etwa keine amtliche Verteidigung bei Bagatellen. Ja, es gibt hier Ungleichheiten. Die hat man aber bewusst in Kauf genommen.
Viele Strafbefehle werden auch nicht übersetzt, obwohl die Betroffenen kein Deutsch verstehen.
Wer eine Freiheitsstrafe kassiert, dem werden das Dispositiv – also der Entscheidteil – und die Rechtsmittelbelehrung in seine Sprache übersetzt. So ist es zumindest im Kanton St. Gallen.
«Es ist die Politik, die sich fragen muss, wie viel ihr ein rechtsstaatliches Verfahren letztlich wert ist.»
Christoph Ill, oberster Strafverfolger der Schweiz
Irgendwie ganz schön viel Kritik für ein Verfahren, das letztlich über 90 Prozent aller Strafverfahren ausmacht.
Wenn Sie einen Hund kaufen und es versäumen, ihn bei Ihrer Wohnsitzgemeinde anzumelden, riskieren Sie einen Strafbefehl. Was ich damit sagen will: Es gibt zig Gesetze, und Sie können sicher sein, dass Sie nahezu überall irgendwo auch noch eine Strafnorm finden.
Dann sind Sie also für die Abschaffung von Straftatbeständen?
Im Bagatellbereich müsste eine Verschiebung aus den Strafverfahren raus passieren, ja. Ausserhalb sicher nicht, wenn wichtige Rechtsgüter betroffen sind. Derzeit diskutiert das Parlament zum Beispiel über einen neuen Straftatbestand zum Cybergrooming. Also dann, wenn Erwachsene online Kontakt mit Kindern suchen mit der Absicht, sich sexuell zu erregen. Für die SSK ist klar: Die ungestörte sexuelle Entwicklung von Kindern ist ein gewichtiges Rechtsgut, das es mit aller Kraft zu schützen gilt. Darum sind wir für eine neue Bestimmung. In der NZZ wurden wir dafür kritisiert: Wir könnten uns nicht immer über mangelnde Ressourcen beschweren und dann einen neuen Tatbestand fordern.
Danke, Herr Ill. Nicht dass Sie hier auf der Anklagebank sitzen, aber Sie haben das Schlusswort, wenn Sie wollen.
Zwei Punkte: Rechtsstaat gibt es nicht gratis und Strafverfahren ebenso wenig. Und: Es ist die Politik, die sich fragen muss, wie viel ihr ein rechtsstaatliches Verfahren letztlich wert ist.
In seinem Buch «Der Staatsanwalt als Richter» kritisiert Marc Thommen, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Zürich, das Strafbefehlsverfahren in der Schweiz. Er hält fest, dass nur ein unabhängiges Gericht Freiheitsstrafen ausfällen könne – das verlange die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Im Strafbefehlsverfahren sind es aber Staatsanwältinnen, die Beschuldigte für bis zu 180 Tage hinter Gitter bringen können. Zudem kritisiert er, dass die meisten Betroffenen nur unvollständig über das Rechtsmittel der Einsprache informiert seien.
- Nationalfonds-Projekt: Zahlen und Fakten zum Strafbefehlsverfahren