Der Schweizer Strafvollzug ist nicht menschenrechtskonform. Diesen Eindruck gewinnt, wer die derzeitige Berichterstattung über Brian Keller alias «Carlos» mitverfolgt.

2013 machte das Schweizer Fernsehen den 17-Jährigen zur Berühmtheit. Es berichtete über den Jugendlichen, der bereits 34 Mal straffällig geworden war – und dank eines eigens auf ihn zugeschnittenen «Sondersettings» resozialisiert werden sollte. Das liess sich der Kanton Zürich 29’200 Franken pro Monat kosten – inklusive einer 4,5-Zimmer-Wohnung, Thaiboxstunden und Privatlehrer.

«Kuscheljustiz» titelten die Zeitungen damals. Die (Medien-)Schweiz war empört. Heute, zehn Jahre später, hat die Stimmung um 180 Grad gedreht. Von einer «Tragödie», einem «haarsträubenden», ja «unglaublichen» Fall und Menschenrechtsverletzungen im Gefängnis ist die Rede. Und das trifft es.

Der Abbruch des Sondersettings für Brian Keller führte in eine Spirale der Eskalation. Sie begann sich aber schon vorher zu drehen. Bereits als Zwölfjähriger kam er – «mangels Alternativen» – in ein Erwachsenengefängnis. Acht Monate verbrachte er dort in Einzelhaft. Das heisst: 23 Stunden allein in der Zelle, eine Stunde Hofgang. Mit 15 Jahren wurde er in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich 13 Tage lang ans Bett fixiert. Nach dem TV-Dok-Film wurde er – «zu seinem eigenen Schutz» – vorübergehend inhaftiert. Zu Unrecht, wie das Bundesgericht später feststellte.

Tatsächlich fiel Brian aus der Norm. In Haft war er renitent und aggressiv. Von unter Wasser gesetzten Zellen hörte man, von Gewaltausbrüchen und Zerstörungswut. Es ist plausibel, dass die rigoros harten Haftbedingungen die Aggressionen geweckt und sogar noch geschürt haben. Wegen Sachbeschädigungen, Drohungen und Körperverletzungen, die Brian hinter Gittern verübt hatte, wurde er nämlich immer wieder in Einzelhaft gesteckt – zuletzt dreieinhalb Jahre am Stück. 2017 musste er über zwei Wochen auf dem nackten Boden schlafen, er durfte nicht duschen, trug drei Wochen ununterbrochen Fussfesseln, niemand durfte ihn besuchen.

So eine Behandlung ist unmenschlich. Wir sind soziale Wesen. Es ist bekannt, dass wir ohne zwischenmenschliche Kontakte verkümmern. Darum darf jede Einzelhaft nur so kurz wie nötig sein. Im Fall Brian wollte man die Mitgefangenen oder die Angestellten schützen. Oder ihn vor sich selbst. Dabei ist Brian gerade wegen der härtesten Bedingungen besonders hilflos und damit schutzbedürftig geworden.

Der Schweizer Strafvollzug hat ein Problem mit Menschen, die nicht der Norm entsprechen. Die Lösung kann aber nicht sein, nicht hinzuschauen oder Betroffene wortwörtlich einfach wegzusperren. Der Staat ist verantwortlich für die Menschen, denen er die Freiheit genommen hat. Er ist dafür verantwortlich, dass die Menschenrechte nicht vor den Gefängnistüren aufhören – auch für schwierige Gefangene nicht.

Besonders schwierig und schutzbedürftig sind auch psychisch kranke Häftlinge. Fast sieben Monate sass Raphael K., bei dem eine Schizophrenie diagnostiziert worden war, in Untersuchungs- beziehungsweise Einzelhaft. Seine Eltern konnten ihn einmal in der Woche besuchen – getrennt durch eine dicke Glasscheibe. Sie mussten darauf vertrauen, dass das Gefängnis ihren Sohn bestmöglich schützt, weil er wegen seiner Krankheit besonders labil war. Der zuständige Gefängnisarzt sah in der Einzelhaft kein Problem. Mit fatalen Folgen: Im August 2019 nahm sich Raphael K. 25-jährig das Leben.

Schutzlos blieb auch der 20-jährige Kilian S. Er wurde nach einer Goa-Party von der Polizei aufgegriffen und in eine Polizeizelle gesperrt. Dort starb er wenig später an einer mutmasslichen Überdosis. Der hinzugerufene Notarzt hatte es nicht für nötig befunden, den jungen Mann ins nahe Spital zu überweisen. Als die Eltern sich wehrten und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Klage einreichten, finanzierte der Beobachter einen Teil der Anwaltskosten. Die Klage ist in Strassburg hängig.

Wir müssen uns keine Illusionen machen. Der Strafvollzug wird immer wieder an seine Grenzen stossen. Trotz allem müssen die Haftbedingungen so sein, dass sie nicht zu blinder Gewalt oder sogar zum Tod führen. Die Menschlichkeit darf hinter Gittern nicht verloren gehen.