Wer täglich am Bundesasylzentrum in Zürich vorbeikommt, hat es längst bemerkt. Vor dem Eingang warten nicht mehr Ukrainerinnen mit ihren Kindern. Jetzt stehen hier junge Männer und Jugendliche aus dem Nahen und Mittleren Osten.

Allein im Oktober stellten 3200 Menschen in der Schweiz ein Asylgesuch. Das sind 20 Prozent mehr als im September und fast doppelt so viele wie im Oktober vor einem Jahr. Insgesamt rechnet das Bundesamt für Migration (SEM) im Jahr 2022 mit über 100’000 Geflüchteten. So viele wie nie mehr seit dem Zweiten Weltkrieg.

1. Wer kommt und wie viele?

Über 70’000 Menschen aus der Ukraine sind dieses Jahr in die Schweiz geflüchtet, mindestens 10’000 werden noch kommen, erwartet das SEM. Dazu rund 24’000 weitere Asylsuchende aus anderen Ländern.

Zum Vergleich: 2015, auf dem Höhepunkt der Fluchtbewegung aus Syrien, waren es knapp 40’000. Während des Kosovo-Kriegs Ende der 90er-Jahre kamen rund 90’000, allerdings über mehrere Jahre.

Die Zentren sind voll, das SEM überlastet. Auch die Kantone und Gemeinden haben Mühe, genügend Unterkünfte zu finden. «Eine solche Situation habe ich noch nicht erlebt», sagt Jörg Schilter, seit sieben Jahren zuständig für Flüchtlinge in der Zürcher Oberländer Stadt Uster.

Die meisten Geflüchteten aus der Ukraine sind bereits seit dem Frühling in der Schweiz. Seit dem Herbst kommen vermehrt wieder Menschen über die Balkan- und Mittelmeerroute. Am meisten aus Afghanistan und der Türkei. Viele von ihnen steckten während der Corona-Pandemie in der Türkei fest und haben ihre Flucht nun fortgesetzt.

Allerdings wollen nicht alle in der Schweiz bleiben. Anfang November berichteten die Medien von täglich mehreren Hundert meist jungen Männern aus Afghanistan oder Syrien, die über die Schweiz weiter nach Frankreich und in Richtung Grossbritannien oder Holland reisen. Sie haben dort Familie und Freunde und rechnen sich bessere Chance auf Arbeit aus als hier.

2. Dürfen die Menschen bleiben?

Für einen relativ grossen Anteil lautet die Antwort: Ja. Die Aussichten sind aber unterschiedlich.

Ukrainerinnen und Ukrainer erhalten fast alle den Schutzstatus S. Er wurde extra für sie aktiviert und Anfang November verlängert. So lange dürfen sie in der Schweiz bleiben und arbeiten. Allerdings planen viele der Ukraine-Flüchtlinge, so bald wie möglich wieder in ihre Heimat zurückzukehren.

Auch Menschen aus Afghanistan oder Syrien werden zurzeit nicht zurückgeschickt. Drei von vier erhalten den Status F. Die meisten von ihnen werden zwar nicht als verfolgte Flüchtlinge anerkannt, sie dürfen aber in der Schweiz bleiben und hier eine Arbeit suchen, bis sich die Situation in ihren Heimatländern bessert. Was allerdings kaum absehbar ist.

Anders sieht es für Menschen aus Afrika aus. Ausser Geflüchtete aus Eritrea, Somalia und Äthiopien bekommen die wenigsten eine Aufenthaltserlaubnis. Im Vergleich zu anderen Jahren machen zum Beispiel Menschen aus Marokko oder Tunesien aber nur einen kleinen Teil der Flüchtlinge aus.

3. Wie ist die Situation in den Unterkünften?

Wie 2015 müssen Flüchtlinge wieder in Zivilschutzanlagen untergebracht werden, teilweise unterirdisch. In einigen Fällen kam es zu Protesten, berichteten verschiedene Medien. Im Bundeszentrum in Allschwil BS wohnten 40 Menschen in einem Raum, manche mussten auf dem Boden schlafen.

Auch in den Gemeinden fehlt der Platz. Luzern hat als erster Kanton die Notlage ausgerufen. So darf er den Zivilschutz einsetzen. Auch wird zum Beispiel eine Container-Anlage für Flüchtlinge in Meggen eventuell doch gebaut, gegen die sich Anwohner wehren. «Ins reiche Meggen passen keine Flüchtlinge», sagte ein lokaler SVP-Politiker im August.

Ukrainerinnen sind häufig noch immer bei Privaten untergebracht. «Ohne diese Hilfe wäre die Situation wirklich prekär, so geht es gerade noch knapp», sagt Jörg Schilter von der Stadt Uster im Kanton Zürich – stellvertretend für viele Gemeinden.

2015 musste Uster zahlreiche Geflüchtete in einer unterirdischen Zivilschutzanlage unterbringen. Dieses Mal nicht, obwohl es viel mehr Menschen sind. «Längerfristig etwas zu finden ist aber sehr schwierig. Es gibt generell kaum freie Wohnungen, erst recht keine günstigen», sagt Schilter.

In manchen Gemeinden müssen darum auch jetzt wieder Menschen in unterirdische Anlagen. «Das darf nur für kurze Zeit so sein», sagt Eliane Engeler von der Schweizer Flüchtlingshilfe. Insbesondere dürften keine Kinder und alleinreisende Jugendliche dort einquartiert werden. Auch seien manche Notunterkünfte abgelegen, der Weg zu den Rechtsschutzstellen weit. «Die Menschen brauchen aber jederzeit Zugang.»

Dennoch stellt die Sprecherin der Flüchtlingshilfe den Behörden ein gutes Zeugnis aus. «In Österreich hausen die Menschen in Zelten, in Holland auf der Strasse. Bei uns haben alle ein festes Dach über dem Kopf.»

4. Wie lernen die Menschen Deutsch und wie finden sie Arbeit?

«In Sachen Integration hat sich vieles zum Besseren entwickelt», sagt Jörg Schilter von der Stadt Uster. Vor sieben Jahren musste seine Gemeinde noch selbst Deutschkurse mit Freiwilligen auf die Beine stellen. Jetzt bieten die Kantone professionellen Sprachunterricht, Job-Coachings, Praktikas und vieles mehr an.

Wenn Geflüchtete bei Privaten unterkommen, helfe das bei der Integration. «Spannend ist, dass sich heute ganz andere Leute für die Ukrainerinnen und Ukrainer engagieren als 2015 für die Menschen aus dem Nahen Osten.»

Auch die Flüchtlingshilfe lobt die neuen Integrationsangebote. Für die Ukrainerinnen – die in vielen anderen Dingen gegenüber anderen Geflüchteten privilegiert sind – werde in diesem Bereich aber zu wenig getan. «Bei ihnen hofft der Bund zu sehr, dass sie wieder zurückkehren», sagt Eliane Engeler.

In manchen Kantonen gibt es im S-Status nur Sprachkurse. «Auch diese Menschen brauchen Hilfe bei der Jobsuche und der Kinderbetreuung, damit sie arbeiten können.»

5. Was bringt das beschleunigte Asylverfahren?

Bis 2018 dauerte es zwischen 250 und 450 Tagen, bis die Geflüchteten Bescheid wussten, ob sie Asyl erhalten oder nicht. Seit Einführung der beschleunigten Verfahren sind es im Schnitt noch 77 Tage.

Vorgesehen ist, dass nur Menschen an die Gemeinden überwiesen werden, die vorläufig im Land bleiben können. Im Moment kommt das SEM aber mit den Verfahren nicht nach, es fehlt an Personal, und die Bundesasylzentren sind überfüllt. Deshalb werden auch wieder Menschen in die Gemeinden geschickt, die nicht wissen, wie es mit ihnen weitergeht. So wie das früher oft der Fall war. «Das macht es für alle schwierig», sagt Jörg Schilter.

Die Flüchtlingshilfe befürwortet die schnelleren Verfahren, sieht aber auch Probleme. «Manchmal achtet das SEM zu stark auf die Geschwindigkeit. Darunter leidet die Qualität der Entscheide», sagt Engeler.

Tatsächlich haben Recherchen des Beobachters gezeigt, dass das Staatssekretariat für Migration mehrere Asylgesuche falsch beurteilte Fehlentscheide bei Schutzstatus S Wegweisungen im Schnellverfahren . Wegen Personalnot arbeiteten beim SEM zudem Leute, die dafür nicht ausreichend qualifiziert waren. So fällten zeitweise Raumplaner Asylentscheide, fand der Beobachter heraus.

«Vor allem bei jugendlichen und traumatisierten Geflüchteten braucht es Zeit, bis sie ein Vertrauensverhältnis aufbauen», sagt Eliane Engeler. «Erst dann sind sie in der Lage, über ihre Flucht zu berichten.»

6. Wie ist die Stimmung in der Schweiz?

Die Ukrainer wurden mit offenen Armen empfangen. Viele warnten, die Stimmung werde irgendwann abkühlen – das scheint aber nicht eingetreten zu sein. «Wir sehen nach wie vor sehr viel Hilfsbereitschaft», sagt sowohl Asylkoordinator Schilter aus Uster als auch Eliane Engeler von der Flüchtlingshilfe.

2015 war die Stimmung angespannter. Damals kamen kaum Frauen und Kinder, sondern vor allem junge Männer aus weiter entfernten Kulturkreisen – so wie jetzt wieder. In Deutschland kippte nach der Kölner Silvesternacht die Willkommenskultur teilweise. Wo neue Asylunterkünfte entstehen, wie in Meggen, gibt es auch in der Schweiz immer Protest.

Eliane Engeler von der Flüchtlingshilfe hofft, dass der Ukraine-Krieg die Augen für die Lage anderer Geflüchteten öffne. Ukrainerinnen und Ukrainer mit Status S dürfen in Gastfamilien leben, ins Ausland reisen, die Familie kann unkompliziert nachziehen. «Das findet die grosse Mehrheit in der Schweiz auch richtig so.»

Menschen aus Syrien oder Afghanistan hingegen erhalten in den allermeisten Fällen den F-Ausweis, der all das nicht erlaubt. «Dabei sind sie genauso vom Krieg geflohen. Ich habe das Gefühl, vielen ist das durch den Ukraine-Krieg erst richtig bewusst geworden.»

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Raphael Brunner, Redaktor
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