Medizin-Nobelpreis für Krebs-Immuntherapie

Die beiden Forscher James P. Allison und Tasuku Honjo erhalten den Nobelpreis 2018 für Medizin für ihre Forschungsarbeit im Kampf gegen den Krebs. Dies gab die Nobelversammlung des Karolinska-Instituts in Stockholm Anfang Oktober bekannt.

Der Amerikaner Allison und der Japaner Honjo entdeckten in den 1990er Jahren unabhängig voneinander, wie man das Immunsystem so steuern kann, dass es die Krebszellen selbst bekämpfen kann (siehe Abschnitt «Eine bahnbrechende Entdeckung» in diesem Text). Aufgrund der Forschungsegebnisse der beiden Immunologen wurden neuartige Medikamente entwickelt, die in den USA und Europa seit 2011 zugelassen sind.

Der 70-jährige James Patrick Allison arbeitet an der University of Texas in Houston. Seit 2012 leitet er dort die Abteilung Immunologie. Der 76-jährige Japaner Tasuku Honjo lehrt seit 1984 an der Universität in Kyoto.

Vielversprechende Therapie – mit Schattenseiten

Trotz der bahnbrechenden Forschungsergebnisse und den Hoffnungen, die damit geweckt werden: ganz ungefährlich ist die Immuntherapie nicht, wie der vorliegende Text zeigt. Und die Behandlungskosten sind sehr hoch.

 

Update: 2. Oktober 2018 / (heb)

Keinen Franken» hätte der Krebsspezialist Roger von Moos vor zehn Jahren für die Erforschung der Immuntherapie investiert. «Ich glaubte damals nicht, dass dieser Ansatz jemals funktionieren würde», sagt der Chefonkologe des Kantonsspitals Graubünden und Präsident der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung.

Von Moos hat seine Meinung geändert und mit ihm viele Krebsspezialisten und Forscher weltweit. Denn die Immuntherapie erweist sich immer mehr als Quantensprung in der Krebsbehandlung, als Revolution gar. Sie könnte die bisherigen Krebsmedikamente langfristig ersetzen.

2013 feierte das Fachblatt «Science» die Immuntherapie als Durchbruch des Jahres. Vier Jahre später ist das Verfahren zwar noch immer mehrheitlich in der experimentellen Phase, die ersten Wirkstoffe sind aber zugelassen.

Die grossen Pharmafirmen wie Roche, Novartis, Bristol-Myers Squibb und Merck Sharp & Dohme wetteifern um Innovationen und Marktanteile. Die Immuntherapie ist, wie Roger von Moos sagt, «in der Realität angekommen» (siehe Interview Krebs «So etwas haben wir bisher kaum gesehen» ).

Das Immunsystem solls richten

Die Chemotherapie zielt darauf ab, Tumorzellen mit hochtoxischen Substanzen zu bekämpfen, wobei neben dem erkrankten auch gesundes Gewebe zugrunde geht. Die Immuntherapie dagegen stärkt die Fähigkeit des Körpers, Krankheitserreger zu beseitigen. Sie powert das körpereigene Immunsystem so auf, dass es wieder imstande ist, Tumorzellen zu erkennen und aus dem Weg zu räumen.

Die Idee dahinter ist alt. Schon vor über 100 Jahren formulierte der deutsche Arzt Paul Ehrlich die These, das menschliche Immunsystem könne nebst Viren oder Bakterien wahrscheinlich auch Krebszellen abwehren. Aber erst in den 1990ern gelang es Forschern im Labor, die Immunantwort bei Krebs mit einem Trick zu stimulieren. Das erste Medikament kam 2011 auf den Markt.

«Wenn ich bei dem Medikamententest nicht mitgemacht hätte, wäre ich nicht mehr hier. Und wenn ich damit auch anderen helfe, ist der Nutzen umso grösser.»

 

Toni Wiget*, Lungenkrebspatient

Zurzeit würde zwar nur einer von zwölf Krebspatienten die Krankheit dank der Immuntherapie überleben, rechnete kürzlich die «New York Times» vor. Doch bei gewissen Krebsformen erzielt sie erstaunliche Erfolge. So sprechen zum Beispiel 20 bis 25 Prozent der Lungenkrebspatienten auf die neuen Wirkstoffe an – nachhaltig.

Einer von ihnen ist Toni Wiget*. «Wenn ich da nicht mitgemacht hätte, wäre ich nicht mehr hier», sagt der 61-Jährige in seinem urchigen Urner Dialekt. «Und wenn ich damit auch anderen helfe, ist der Nutzen umso grösser.» Wiget ist braungebrannt und wirkt drahtig. Jedenfalls sieht er nicht aus wie einer, der todkrank ist. Aufrecht sitzt er im Besprechungszimmer seines Onkologen Oliver Gautschi im Luzerner Kantonsspital, wo er seit Dezember letzten Jahres behandelt wird. 

Operation, Rega, Rückfall

Wiget wirkt bei einer klinischen Studie mit. Im Juni 2015 hatte der Urner Schmerzen im Brustraum und dachte, er habe sich eine Rippe gequetscht. Nach der Untersuchung im regionalen Spital eröffnete ihm die Ärztin, er habe einen Tumor auf der Lunge. «Sie schnitten mir dann einen halben Lungenflügel heraus», erzählt er. 14 Tage Spital, 14 Tage Reha auf Heiligenschwendi, dort oben sei er wieder richtig «zwäg gekommen».

Aber nicht für lange. Wiget hatte gegen Ende 2016 einen Rückfall mit Ablegern in Lymphknoten in Brust und Hals. «Ein Problem, das wir bei Patienten mit Lungenkrebs oft sehen», sagt Onkologe Gautschi. Eine Chemotherapie hätte in seinem Fall nur eine geringe Chance auf Erfolg gehabt. 

«Es gibt vielleicht eine Möglichkeit»

Die Ärztin überwies Wiget ins Zentrumsspital in Luzern. Es gebe vielleicht eine Möglichkeit, ihn in eine Studie mit einem neuen Medikament einzuschliessen. Das Medikament hiess Atezolizumab – ein Immuntherapeutikum, das damals erst in den USA zugelassen war. Hersteller Roche testete seine Wirksamkeit in einer weltweiten randomisierten Studie. Etwa 500 Teilnehmer erhielten eine herkömmliche Chemotherapie, rund 500 Teilnehmer bekamen die Chemo in Kombination mit der Immuntherapie. «Wir wussten nicht, welcher der beiden Studiengruppen Herr Wiget zugeteilt würde. Das geschieht jeweils nach dem Zufallsprinzip per Computer», sagt Onkologe Gautschi. 

«Ich habe mich natürlich gefreut, als ich in die Gruppe mit der Kombinationstherapie kam», sagt Wiget. Seit Dezember 2016 reist der Urner alle drei Wochen nach Luzern ins Kantonsspital. In der ersten Zeit wurden ihm die Tage sehr lang: morgens die Infusion mit der Immuntherapie, nachmittags das gleiche Prozedere, aber mit der Chemo. Dazwischen viele Blutproben, unzählige Röhrchen zapfen sie ihm jeweils ab. Wiget versteht nicht immer alles, was Ärzte und Pflegefachpersonen ihm erklären. «Ich will gar nicht zu viel wissen», sagt er. 

Krebstherapie

Medikamententest: Unterhalb des Schlüsselbeins ist ein Port implantiert, über den die Mittel in die Blutbahn tröpfeln.

Quelle: Joseph Khakshouri

Nach vier Zyklen war die Chemotherapie abgeschlossen, seither bekommt er nur noch Atezolizumab, das in der Schweiz seit Anfang Juni zugelassen ist. Wiget wird nach wie vor innerhalb der Studie behandelt.

«Ich fühle mich gut», sagt er. Er brauche zwar viel Schlaf, doch er könne sogar wieder arbeiten, 40 Prozent. Seine Arbeitgeberin, die SBB, habe eine Stelle für ihn massgeschneidert, nicht mehr im Lösch- und Rettungszug des Gotthard-Basistunnels wie zuvor («ich bin nicht mehr atemschutztauglich»), sondern handwerkliche Aufgaben, die er auch gern mache. «Das hat mir sehr geholfen», sagt er. Nebenwirkungen der Therapie habe er ausser der Müdigkeit keine gehabt.

Wiget hat sehr gut auf die Therapie angesprochen. Untersuchungen mit Computertomografie hätten gezeigt, dass der Tumor auch nach Absetzen der Chemotherapie geschrumpft sei und immer noch schrumpfe, sagt Onkologe Gautschi. Das deute darauf hin, dass die Immuntherapie wirke. 

NIcht alle haben Glück

Was wirkt da genau? «PD-L1», sagt Gautschi, nun ganz Wissenschaftler. «Das ist ein Schutzschild des Tumors gegen die Immunzellen. Den kann das Medikament neutralisieren.»

Auch Gertrud Seidl* aus dem liechtensteinischen Triesen hatte auf eine Immuntherapie gehofft. Die 48-Jährige ist im Kantonsspital Chur in Behandlung. 2014 war sie an Nierenzellkrebs erkrankt, der anderthalb Jahre später Ableger in der Lunge und der Blase bildete. Der Onkologe in Chur hatte ihr gesagt, sie komme für eine klinische Studie mit einer Immuntherapie in Frage, falls die Metastasen weiterwachsen.

«Dass ich in der Kontrollgruppe landete, war im Moment hart. Denn ich hatte mit der Therapie zugewartet, um die Studienkriterien für die Immuntherapie zu erfüllen.»

 

Gertrud Seidl*, Nierenzellenkrebspatientin

Das taten sie, und Seidl ergriff die Chance, ein vielleicht bahnbrechendes Medikament zu erhalten, ebenfalls Atezolizumab. Doch sie hatte weniger Glück. Der Losentscheid des Computers teilte sie der Kontrollgruppe zu – der Gruppe also, die mit der herkömmlichen Therapie behandelt wird. Ziel dieses Verfahrens mit Zufallsentscheid ist es, direkt zu vergleichen, welche der beiden Therapien besser wirkt.

«Für mich war das im Moment schon hart», erzählt Gertrud Seidl. «Ich hatte mit der Therapie zugewartet, um die Studienkriterien für die Immuntherapie zu erfüllen.» Nun fährt sie seit November 2015 alle drei Wochen nach Chur zur Chemotherapie. Sie lässt Untersuchungen über sich ergehen, füllt jedes Mal eine lange Liste mit Fragen zu ihrem Befinden aus und wartet geduldig, bis die Krebsmedikamente über den Port, der unterhalb ihres Schlüsselbeins implantiert ist, in ihre Blutbahn getröpfelt sind. 

«Es geht mir gut, ich arbeite 90 Prozent», sagt sie. Gäbe es keine Patientinnen wie sie, die sich auf die 50:50-Lotterie einer randomisierten Studie einlassen, würde kein Krebsmedikament die Zulassung schaffen.  

Eine bahnbrechende Entdeckung

Es war in den 1990er Jahren, als die US-Wissenschaftler James Allison und Jeffrey Bluestone unabhängig voneinander dieselbe Entdeckung machten: Sie bewiesen, dass ein Molekül, von dem man bisher angenommen hatte, dass es das Immunsystem aktiviert, dieses in Wahrheit blockiert. Das Molekül ist ein Eiweiss auf der Oberfläche der T-Zellen – der Zellen des Immunsystems, die die Aufgabe haben, kranke Zellen zu zerstören. 

Die T-Zellen haben verschiedene solcher Moleküle oder Checkpoints. Das erste Molekül, das Allison entziffert hat, heisst CTLA-4 (der Name ziert heute das Nummernschild seines Porsches). Dank ihm greifen die T-Zellen kein gesundes Gewebe an. Fatalerweise können aber auch Tumorzellen an die Checkpoints der T-Zellen andocken und ihnen so vorgaukeln, sie seien gesund.

Es dauerte Jahre, bis Therapie beim Menschen funktionierte

Allison kam nun auf die Idee, mit einem synthetischen Antikörper dieses Andocken zu verhindern, damit die T-Zellen die Tumorzellen wieder als Feinde erkennen und sie angreifen. Im Tierversuch klappte es. Spritzte Allison den Antikörper krebskranken Mäusen, verschwanden die Tumoren.

Doch bis dieser Mechanismus auch beim Menschen funktionierte, vergingen Jahre. Der erste Antikörper wurde 2011 in den USA zugelassen. Ipilimumab von Bristol-Myers Squibb hatte sich für die Behandlung fortgeschrittener Melanome bewährt. 22 Prozent der Studienteilnehmer überlebten die Krankheit dank dem neuen Mittel mehr als drei Jahre – ohne Anzeichen eines Rückfalls. Ein erstaunliches Resultat für einen Krebs, der als einer der gefährlichsten überhaupt gilt.

James Allison ist heute für viele Krebspatienten ein Held. Und für viele Wissenschaftler ein Anwärter auf den Nobelpreis.

Die neuen Krebskiller

Immuntherapien sollen das körpereigene Abwehrsystem in die Lage versetzen, Krebszellen von gesunden Körperzellen zu unterscheiden und sie dann zu bekämpfen. Zwei der neuen Therapieformen werden hier vorgestellt. Eine ist bereits zur Behandlung von Patienten zugelassen, die andere wird gegenwertig getestet. 

Krebs bekämpfen

Krebszellen entwickeln sich aus normalen Zellen, die sich unkontrolliert vermehren und im Körper ausbreiten. Mediziner versuchen diese bösartig wuchernden Tumoren aufzuhalten. Bekämpft werden die rund 200 verschiedenen Krebsarten mit konventionellen Methoden wie Operationen, Bestrahlung, Chemotherapien und nun auch mit neuartigen Therapien. Oft kommen mehrere Verfahren gleichzeitig zum Einsatz. 

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Es herrscht Wildwuchs in der Forschung

Kombinationstherapien wie diejenige, die bei Toni Wiget die Metastasen in Schach hält, werden inzwischen zahlreich getestet. Teils werden verschiedene Antikörper miteinander, teils Antikörper mit Zellwachstumshemmern kombiniert. «Zurzeit sind über 1000 Studien mit Immuntherapie am Laufen, die Möglichkeiten sind praktisch grenzenlos», sagt Onkologe Roger von Moos.

Das ist zugleich eines der grossen Probleme der Immuntherapie – es herrscht Wildwuchs. Es sei völlig unklar, nach welchen Kriterien welche Kombinationen bei welchen Patienten erforscht werden sollen, kritisiert etwa Viviane Hess, Leiterin klinische Forschung Onkologie am Unispital Basel. «Die Entwicklung der Immuntherapie wird mit überwiegender Macht von der Industrie vorangetrieben.» Es brauche aber die gleichberechtigten Stimmen vieler Beteiligter – von Ärzten, der unabhängigen Forschung und von Patienten.

Je mehr Studien es gibt, desto klarer zeigt sich ein weiteres Problem: Das entfesselte Immunsystem greift manchmal auch gesundes Gewebe und ganze Organe an. Es kommt zu Nebenwirkungen wie Hautausschlag, Darm- oder Leberentzündungen. Manchmal treten diese Autoimmunreaktionen schnell, manchmal erst nach Wochen und Monaten auf. In seltenen Fällen bleibt es nicht bei leichten Nebenwirkungen. Dokumentiert sind Fälle von tödlich verlaufenen Herzerkrankungen in den USA und in Deutschland. 

Krebsforschung

Gabriela Manetsch-Dalla Torre ist Teamleiterin klinische Forschung am Kantonsspital Graubünden.

Quelle: Joseph Khakshouri

Ein drittes ungelöstes Problem: Immuntherapeutika sind unglaublich teuer. Für einen einzelnen Patienten fallen nicht selten 100'000 bis 150'000 Franken im Jahr an. Ein Mittel gegen eine schwere Form von Leukämie, das kurz vor der Zulassung steht, soll sogar bis zu 500'000 Dollar pro Patient kosten. 

Letztes Jahr verursachten Krebsmedikamente in der Schweiz Kosten von 600 Millionen Franken. Tendenz stark steigend. So hat etwa die Krankenkasse Helsana dafür 2016 dreimal so viel bezahlt wie 2006. Und gemäss Zahlen der amerikanischen Zulassungsbehörde für Medikamente haben sich die Kosten für neu zugelassene Krebsmittel in den letzten 25 Jahren verzehnfacht. 

Selbst wenn die neuen Medikamente von den Behörden zugelassen sind, tun sich die Krankenkassen schwer damit, sie zu vergüten. Was ist ein fairer Preis? Welche Krebspatienten kommen für eine Immuntherapie in Frage, welche nicht? Solche Fragen werden die Gesellschaft noch lange beschäftigen. 

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Roger von Moos
Quelle: Joseph Khakshouri
Wissen, was dem Körper guttut.
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Chantal Hebeisen, Redaktorin
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