Für die Einführung der Mobilfunktechnologie der fünften Generation (5G) und das Internet der Dinge drängt die Telekomindustrie schon seit längerem auf eine Lockerung der geltenden Grenzwerte für Mobilfunkstrahlung. Im Frühling des letzten Jahres lehnte der Ständerat Kommentar zu 5G «Grenzwerte nicht vorschnell erhöhen» mit einem knappen Entscheid diese Forderungen ab und hielt an den bestehenden Höchstwerten fest. 

Bundesrätin Doris Leuthard kritisierte den Entscheid in einer Fragestunde des Parlaments als «weder innovations- noch wirtschaftsfreundlich». Die Folge sei, dass weniger grosse Antennen, so genannte Makrozellen, für die Übertragung der Funksignale über grössere Strecken gebaut werden dürften. Dafür brauche es deutlich mehr kleine Antennen. «Somit wird es dann halt nicht für die ganze Schweiz Chancengleichheit geben, sondern unterschiedliche Geschwindigkeiten und Möglichkeiten.» Aber man werde versuchen, das zu korrigieren.  

Bundesratsbeschluss «nicht zulässig»

Tatsächlich passte der Bundesrat am 17. April dieses Jahres die Verordnung über den Schutz vor nicht ionisierender Strahlung (NISV) im Sinne der Telekomindustrie an, nur geringfügig zwar, aber dennoch mit potenziell weit reichenden Folgen.
 

«Mit Blick auf ein flächendeckendes 5G-Netz birgt die Verordnungsänderung eine nicht abschätzbare Gefahr schädlicher Strahlung in sich.»

Michael Fretz, Rechtsanwalt


Der Verein «Schutz vor Strahlung» bestellte daraufhin für einen Musterfall ein Parteigutachten bei einer Aarauer Anwaltskanzlei. Rechtsanwalt Michael Fretz kommt darin zum Schluss: «Mit Blick auf ein flächendeckendes 5G-Netz birgt die Verordnungsänderung eine nicht abschätzbare Gefahr schädlicher Strahlung in sich.» Es sei nicht gewährleistet, dass dem Vorsorgeprinzip Rechnung getragen werde. Der bundesrätliche Beschluss sei sowohl materiell wie auch formell «nicht zulässig».

Worum geht es? Die Strahlung von Mobilfunkantennen ist auf Grundlage des Vorsorgeprinzips im Umweltschutzgesetz geregelt. Darin wird verlangt, dass die Emissionen der Antennen so weit zu begrenzen sind, als dies «technisch und betrieblich möglich und wirtschaftlich tragbar ist». Es sind zwei Arten von Grenzwerten festgelegt: die Immissions- und die Anlagegrenzwerte.

Grenzwerte nicht mehr klar geschützt

Die Immissionsgrenzwerte werden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgegeben. Sie sollen den Menschen schützen vor thermischen Effekten, also vor der Absorption der Mikrowellen im Körpergewebe. Diese Grenzwerte hat der Bundesrat nicht angetastet. Sie gelten nach wie vor und sie liegen – je nach  Mobilfunkfrequenz – zwischen 41 bis 61 Volt pro Meter (V/m).

Die Anlagegrenzwerte (AGW) sind zum präventiven Schutz gedacht. Sie begrenzen die maximale Strahlung von Antennenanlagen, um mögliche andere, nicht thermische Effekte auf die Gesundheit zu minimieren, und liegen rund zehnmal tiefer als die Immissionsgrenzwerte. Sie müssen nur eingehalten werden an so genannten «Orten mit empfindlicher Nutzung» (Omen). Beispiele dafür sind Wohnungen, Schulen, Kindergärten, Spitäler, Arbeitsplätze, Kinderspielplätze. Ziel dieser im internationalen Vergleich deutlich härteren Schweizer Regelung ist es, die Langzeitbelastung der Bevölkerung tief zu halten.

Diese Anlagegrenzwerte sind durch die bundesrätlichen Anpassungen seit April dieses Jahres nicht mehr explizit geschützt.

Höhere Strahlung in Senderichtung

Für die AGW wird erhoben, wie stark eine Antennenanlage bei maximalem Datenverkehr und maximaler Leistung strahlt. Die AGW und deren Erhebungsmethode werden seit längerem von der Telekomindustrie und von Teilen der Wirtschaft kritisiert 5G-Mobilfunk Politisch grenzwertige Aussagen . Die Industrie setzt nämlich auf dynamische, so genannt adaptive Antennen für die Zukunft.

Die Funksignale dieser Anlagen können automatisch auf die jeweiligen Empfangsgeräte der Nutzer fokussiert werden. Das so genannte «beam forming» erlaubt eine sehr hohe Übertragungskapazität und bedeutet, dass in der Senderichtung eine deutlich höhere Strahlung auftritt als überall dort, wo gerade keine Verbindung benötigt wird.

Genau in diesem Punkt hat der Bundesrat die Strahlenschutzverordnung abgeschwächt. «Als massgebender Betriebszustand gilt der maximale Gesprächs- und Datenverkehr bei maximaler Sendeleistung», hiess es bisher in der NISV. Der neue, zusätzliche Absatz heisst: «Bei adaptiven Antennen wird die Variabilität der Senderichtungen und der Antennendiagramme berücksichtigt.»

Das Rechtsgutachten von Anwalt Michael Fretz kritisiert, diese Vorgabe sei «auslegungsbedürftig». Die Verordnung treffe damit «bewusst eine Unterscheidung zwischen herkömmlichen Antennen und adaptiven Antennen». Eine solche «Privilegierung» von adaptiven Sendeanlagen sei nicht gerechtfertigt.

Bund: «Beurteilung auf der sicheren Seite»

Zudem moniert das Gutachten, dass das Bundesamt für Umwelt (Bafu) künftig selber entscheiden soll, wie genau der Passus zu den Grenzwerten adaptiver Antennen auszulegen sei. Dem Bafu fehle aber «die demokratische Legitimation zur Konkretisierung von derart einschneidenden Bestimmungen». Der geänderten Strahlenschutzverordnung liege «eindeutig die Absicht zugrunde, die Einführung adaptiver Antennen nicht zu behindern». Diese Absicht dürfe aber nicht zu einer Aushöhlung des Gesundheitsschutzes 5G-Mobilfunk «Es gibt sicher noch einige Unsicherheiten» führen.

Beim Bafu verweist man auf Anfrage darauf, dass eine «Vollzugshilfe» für die Kantone in Ausarbeitung sei, um Klarheit zu schaffen, wie bei der Bewilligung adaptiver Antennen vorzugehen sei. Bis diese Vollzugshilfe bis spätestens Ende Jahr vorliege, müssten Kantone adaptive Antennen in einem worst-case-Szenario behandeln. Dabei solle die Strahlung wie bei konventionellen Anlagen nach der maximalen Leistung beurteilt werden: «Die tatsächliche Strahlung wird damit überschätzt und die Beurteilung ist auf der sicheren Seite.» 

Rechtsanwalt Michael Fretz genügt diese Beruhigung auf Zeit nicht. Er empfiehlt die Beschreitung des Rechtswegs und schreibt in seinem Gutachten: «Nur wenn als massgebender Betriebszustand auch bei adaptiven Antennen der maximale Datenverkehr bei maximaler Sendeleistung gilt, kann dem Vorsorgeprinzip gemäss heutigem Wissensstand Rechnung getragen werden.»

Bis Klarheit über die Auslegung der aktualisierten NIS-Verordnung besteht, dürfte es damit noch einige Zeit dauern. Das Bafu schreibt dem Beobachter, wenn eine Verordnung «neu erstellt oder substanziell geändert wird», sei es üblich, dass gewisse Bestimmungen angefochten würden. «Es ist davon auszugehen, dass auch die neuen Bestimmungen zu den adaptiven Antennen dereinst vom Bundesgericht überprüft werden.»

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Dominique Strebel, Chefredaktor
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