Eine Schweiz, die nicht neutral ist? Für die meisten wohl undenkbar. Die Neutralität scheint so zum nationalen Charakter zu gehören, dass eine Frage kaum gestellt wird: Was bringt sie eigentlich? Nur gute beziehungsweise fragwürdige Geschäfte – oder verbessert sie die nationale Sicherheit? Und was ist ihr Preis?
Klar ist, dass sie aus einer Epoche der Kaiser und Könige stammt. Als beim Wiener Kongress 1815 die Grenzen in Europa neu gezogen wurden und sich Mächte wie Preussen oder Habsburg mit ihren jeweiligen Plänen für die Schweiz nicht durchsetzen konnten, war deren Neutralität ein Kompromiss. Auch das immer noch geltende Haager Abkommen von 1907, das die Pflichten eines Neutralen definiert, baut auf den Erfahrungen des 19. Jahrhunderts auf. Damals galten Angriffskriege als legitim.
Neutralität gibt ein gutes Gefühl
Die Welt sieht 116 Jahre später anders aus. Angriffskriege verstossen gegen das Völkerrecht, es gibt Uno, Nato und EU – Institutionen, die die kollektive Sicherheit erhöhen. Was schützt heute die Schweiz mehr: ein gutes Verhältnis zu den Nato-Nachbarn oder die Neutralität? Russland anerkannte 1991 die Grenzen der Ukraine per Vertrag, aber Putin hat ihn weggewischt. So jemandem wäre auch die Schweizer Neutralität egal. Laut dem St. Galler Politikwissenschaftler Christoph Frei ist diese heute vor allem identitätsstiftend. Anders gesagt: Sie gibt eine geistige Heimat und ein gutes Gefühl. In der Schweiz.
In Europa und den USA dagegen wächst der Ärger über die eigenbrötlerischen Eidgenossen. Dass die Schweiz anderen Ländern verbietet, einst hierzulande gekaufte Munition an die Ukraine weiterzugeben, hat mit dem Neutralitätsrecht höchstens indirekt zu tun. Denn das Haager Abkommen regelt diese Frage gar nicht. Ungewöhnlich scharf kritisierte der US-Botschafter in Bern das helvetische Wiederausfuhrverbot: Die Schweiz könne sich nicht als neutral bezeichnen und zulassen, dass der Aggressor davon profitiere.
Die Neutralität ist ein politisches Mittel – kein Selbstzweck.
Doch der Bundesrat – der andererseits Lieferungen an das kriegführende Saudi-Arabien zulässt – erkennt keinen gesetzlichen Spielraum für Pragmatismus, und das Parlament wollte bisher keinen schaffen. Man sieht sich lieber in der Rolle eines Vermittlers, auch wenn da kaum jemand auf die Schweiz zu warten scheint. Was die Haltung von Regierung und Parlament moralisch bedeutet, hat Daniel Jositsch, SP-Ständerat und Verfechter einer knallharten Neutralität, auf den Punkt gebracht: «Wenn man nicht auf der Seite des Guten steht, dann hilft man dem Bösen. Aber das muss man aushalten, wenn man neutral ist.»
Im Ernst? Muss man das aushalten? Oder könnte man doch darüber debattieren, wie klug eine Neutralitätspolitik ist, die international ins Abseits führt? Denn Neutralität ist ein politisches Mittel, das immer wieder flexibel gehandhabt wurde – kein Selbstzweck. Und schon gar kein Naturgesetz, bei dem die Politik machtlos wäre.
Erinnerungen an das Bankgeheimnis
Das Ganze erinnert an das Ende des Bankgeheimnisses für Kundinnnen und Kunden im Ausland. Auch dieses schien einst Teil der Schweizer Identität – absolut nicht verhandelbar. Als die USA und die EU immer unzimperlicher nach unversteuerten Geldern im Ausland fahndeten, verschanzte sich die Schweiz hinter einer haarspalterischen Unterscheidung zwischen Steuerhinterziehung und Steuerbetrug. Bei Steuerhinterziehung gelte das Bankgeheimnis, man leiste keine Rechtshilfe, tönte es aus dem Réduit. Das Ausland werde «sich die Zähne ausbeissen», prophezeite Finanzminister Hans-Rudolf Merz.
Ein Jahr später musste die Schweiz ihr Bankgeheimnis kleinlaut beerdigen. Was blieb, war der Reputationsschaden.
6 Kommentare
Die Neutralität der CH wurde 1815 am Wienerkongress beschlossen. Die verfeindeten Nachbarstaaten ( Deutschland, K&K, Frankreich u.a.) wollten nicht, dass die Schweiz als Durchgangsland des jeweiligen Feindes benutzt wird. Deshalb musste die Schweiz neutral bleiben, aber sich gegen alle Eindringlinge wehren : deshalb bewaffnete Neutralität (!). Das hat bis Ende des 2. Weltkrieges funktioniert. Aber heute haben wir eine ganz andere Welt. Die europäischen Demokratien sind in freiheitlichem Geiste verbunden und ein Diktator (Russland) will einen für seine Freiheit kämpfenden Staat im Osten Europas unterjochen. Neutralität ist nur noch ein Fossil das dem Aggressor hilft.
Bravo !!
Die Argumentationen scheinen mir zu wenig weit zu greifen.
Die Gedanken von S.Streiff sind ein weitere Teil, die Sache genauer anzusehen. Ich bin ebenfalls der Meinung, dass wir uns von den USA gar nichts vorsagen lassen müssen. Was die USA bereits über Jahrzehnte für Elend in der Welt angerichtet haben, das kann leicht unter Wikipedia nachgelesen werden. Die Zusammenstellung der Kriege der USA ist erschreckend!
Die kleine Schweiz, mitten in Europa, hat wirklich keine grosse militärische Bedeutung. Ihre Armee dient gerade mal, um sich eine gewisse Unabhängigkeit zu wahren, resp viel mehr einen Beitrag zur Verteidigung von Europa zu leisten, sollte es jemals dazu kommen. Dazu braucht sie keinen Nato-Beitritt.
Die Stärke der Schweiz kann aber sein, sich als Vermittler in einer Konfliktsituation einzubringen. Das würde ich nicht so leicht abtun, wie das im Artikel geschieht. Ein Konflikt braucht stets einen Vermittlerstaat. Die Schweiz könnte sich voll darauf ausrichten. Wer sonst soll dies in diesem Krieg übernehmen. Die Türkei scheint mir dazu nicht sehr prädestiniert zu sein. Brasilien? Lula ist recht weit vom Geschehen entfernt und mit seinem riesigen Land sehr gefordert.
Die Schweiz kann weiter medizinische Versorgung bieten und der Zivilbevölkerung in diversen Bereichen beistehen, was sie übrigens bereits tut.
Ein militärischer Beitrag der CH, neben all den mächtigeren Staaten, die sich schon dafür engagieren, ist marginal, vernachlässigbar. Ihren Einsatz in den oben beschriebenen Bereichen aber die Chance für diese katastrophale Situation. Der Bundesrat müsste sich voll dafür aussprechen und sich somit nicht neutral gegenüber dieser Misere verhalten, sondern konstruktive Beiträge leiten.
Neutralität ist sicherlich nicht die schlechteste Position die man einnehmen kann. Sei das als Land oder auch als Privatperson. Es gibt einem die Chance zu vermitteln. Was fraglich ist, Neutral zu sein und eine Rüstungsindustrie zu haben, die zwar Vorgaben hat, wer was bekommen darf. Aber, gibt es neutrale Waffensysteme? Und wer garantiert bzw. entscheidet, dass alles gelieferte Kriegsmaterial selbstverständlich nie gegen möglicherweise die Falschen, oder vielleicht doch die Richtigen, eingesetzt wird? Kann ein Weiterverkauf in allen Ländern dieser Erde garantiert werden? Auch wenn sie nicht so im Brennpunkt stehen, wie im Moment die Ukraine?
Leider hat Putin zu viele Freunde in der schweizer Politik. Neutralität kann man sich nur leisten, wenn man sich, wie die Schweiz, in einem sicheren Hafen befindet, umringt von westlichen Staaten. Europa und die Welt haben die Schnauze voll von der Schweiz und wir haben an allen Enden verspielt, ob Klima, Flüchtlingen oder Krieg in der Ukraine und die FIFA als Lachnummer im internationalen Fussball.
Die Schweiz, das Land der Profiteure und Selbstbedienung. Es ist an der Zeit und wieder auf unsere Tugenden zu besinnen und zu wissen, wer unsere Freunde sind und wer eben nicht.