«Das ist ein leicht durchschaubares Hinhaltemanöver», ärgert sich Nadine Masshardt, Präsidentin des Konsumentenschutzes. Ende Juni hatte die nationalrätliche Rechtskommission beschlossen, nun doch noch nicht auf die Vorlage des Bundesrats zu einer Sammelklage einzutreten – und beauftragte die Verwaltung, diverse Zusatzabklärungen zu machen. Es seien noch zu viele Fragen offen.

Frühestens im nächsten Frühling werden die Beratungen wieder aufgenommen. Das ist für SP-Nationalrätin Masshardt unverständlich. Sie sieht dringenden Handlungsbedarf: «In unserem Rechtssystem klafft eine störende Lücke. Konsumentinnen und Konsumenten bleiben auf ihrem Schaden sitzen und sind vom Rechtsweg ausgeschlossen.» Die Schweiz hinke der EU beim kollektiven Rechtsschutz schon heute hinterher.

Für Einzelpersonen zu teuer

Es brauche endlich eine Lösung, damit sich Konsumentinnen und Konsumenten bei Massenschäden wirksam wehren können. Denn heute gilt: Wer klagen will, muss das allein tun – auch wenn Tausende betroffen sind. Das ist in den meisten Fällen für Einzelpersonen zu komplex und zu teuer. Gleiche Fälle zu bündeln und gemeinsam vor Gericht zu gehen, wäre einfacher und effizienter.

Zum Beispiel für alle, die gewisse Schlafapnoe-Geräte von Philips verwenden. Im Frühling 2021 wurde bekannt, dass sie mangelhaft sind und Patientinnen und Patienten Partikel und Gase einatmen, die potenziell krebserregend sind. Weltweit sind mehrere Millionen Geräte betroffen, in der Schweiz rund 45'000. Bis im kommenden Frühjahr sollen hierzulande alle Geräte umgetauscht sein. Aber die Betroffenen in der Schweiz werden – anders als in anderen Ländern – von Philips wohl kaum Schadenersatz erhalten. Dafür müssten alle einzeln klagen. Das ist den meisten zu riskant und zu mühsam.

Der VW-Abgasskandal hat gezeigt: Auch wenn der Schaden in allen Ländern der gleiche ist, hängt es vom Rechtssystem ab, ob man entschädigt wird. Dank der in Deutschland neu eingeführten Musterfeststellungsklage erhielten dort über 240'000 Geschädigte Einmalzahlungen zwischen 1'350 und 6'257 Euro, insgesamt rund 750 Millionen Euro. Eine Konsumentenschutzorganisation hatte stellvertretend für die Betroffenen geklagt. Auch in anderen Ländern musste VW hohe Summen zahlen. In der Schweiz nicht. Hier wollte der Konsumentenschutz 6000 Betroffenen Abgasskandal Tausende klagen gegen VW und Amag zu ihrem Recht verhelfen und klagte. Doch der Versuch scheiterte am Rechtssystem. Es gab kein Geld für Schweizer Geschädigte.

Das gilt auch für die Frauen in der Schweiz, die während der Schwangerschaft ahnungslos das Epilepsiemedikament Depakine schluckten Medikament mit Nebenwirkungen Eltern behinderter Kinder wehren sich vor Gericht und in der Folge Kinder mit Missbildungen und Entwicklungsstörungen gebaren. In Frankreich wurde nach einer Sammelklage ein Entschädigungsfonds für Betroffene eingerichtet.

Schon gar nicht vor Gericht geht man in der Schweiz bei sogenannten Streuschäden. Bei denen sind zwar viele betroffen, aber die Beträge sind so winzig, dass niemand klagt. Zum Beispiel bei falsch abgerechneten Kreditkartengebühren – ein paar Rappen hier und da. Niemand wehrt sich deswegen, aber trotzdem sind am Ende Millionenbeträge auf dem falschen Konto.

Der Entscheid, auch in der Schweiz Sammelklagen einzuführen, wird seit Jahren Jahrelange Verzögerung Wieso es in der Schweiz noch immer keine Sammelklagen gibt auf die lange Bank geschoben. Obwohl man sich im Grundsatz einig wäre. So verlangte eine Motion schon 2013 die Förderung der kollektiven Rechtsdurchsetzung. National- und Ständerat stimmten ihr zu, und der Bundesrat stellte in seinem Bericht fest, dass der Zugang zum Gericht tatsächlich zu oft in Frage stehe.

Zuerst wollte man das Problem im Finanzdienstleistungsgesetz regeln. 2015 kippte der Bundesrat die Vorschläge aber kurzerhand aus der Vorlage. Das Thema sei zu umstritten. Man solle es besser in der Revision der Zivilprozessordnung (ZPO) unterbringen. 2020 dann dasselbe Spiel: Der Vorschlag flog auch aus der Zivilprozessordnung raus. Man wolle den Erfolg der Revision nicht riskieren.

Bürgerliche und Wirtschaft sperren

Ende 2021 legte der Bundesrat einen separaten Vorschlag für einen kollektiven Rechtsschutz vor. Er will vor allem das bereits bestehende Instrument der Verbandsklage ausbauen. Verbände und Organisationen, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen, könnten dann im Namen von Betroffenen klagen. Zudem sollten neu kollektive Vergleiche möglich werden.

Dagegen sind FDP und SVP sowie Wirtschaftsverbände. Es handle sich um ein enorm wichtiges Dossier für den Wirtschaftsstandort, und die Unternehmen seien sich in dieser Frage einig, sagt Sandrine Rudolf von Rohr von Economiesuisse. Sie begrüsst, dass die Kommission sich mehr Zeit nehmen will, um weitere Fragen zu beantworten.

«Die Kommission bestätigt mit ihrem klaren Votum auch, dass es mit der Einführung von Sammelklagen zu einem rechtlichen Paradigmenwechsel mit weitreichenden Folgen und hohen Kosten für den Wirtschaftsstandort käme», sagt Rudolf von Rohr. Sinnvoller fände sie, die laufende ZPO-Revision abzuwarten, um mit den dortigen Verbesserungen Erfahrungen zu sammeln.

Gegner der Vorlage warnen vor dem Missbrauchspotenzial von Sammelklagen, vor Exzessen, wie man sie etwa aus dem Ausland kennt. «Überall dort, wo es Sammelklagen gibt, breiten sich spezialisierte Firmen aus, denen es um den eigenen Profit geht und nicht um Gerechtigkeit», sagt Rudolf von Rohr. Man wolle in der Schweiz kein Biotop für Drittparteienfinanzierer schaffen.

Klagewellen, wie etwa in den USA, seien aber in der Schweiz nicht möglich, sagt Cécile Thomi, Leiterin Recht beim Konsumentenschutz. Man müsse weiterhin hohe Kostenvorschüsse bezahlen, und die Verlierer müssten die gesamten Prozesskosten berappen, ebenso die Anwaltshonorare der Gegenpartei. Auch die Beweispflicht bleibe streng.

Nicht automatisch dabei

Nicht zuletzt sei in der Schweiz eine sogenannte Opt-in-Regelung vorgesehen: Betroffene müssen sich einer allfälligen Klage explizit anschliessen. Das führe dazu, dass die Schadenssumme und damit auch das von ihr abhängige Anwaltshonorar wesentlich kleiner blieben als im US-System. Dort werden automatisch alle Geschädigten in das Verfahren miteinbezogen. «Niemand wird in Zukunft leichtfertig ein solches Verfahren starten. Es wird viel zu teuer bleiben, um ins Blaue hinaus zu klagen. Aber immerhin wäre es – im Gegensatz zu heute – überhaupt möglich», so Thomi.

Dass eine mehrheitsfähige Lösung gefunden werden könne, sei wenig wahrscheinlich, sagte Justizministerin Karin Keller-Sutter vor einem Jahr im Ständerat. «Es gibt zwei Lager: Die eine Hälfte will diese Instrumente, die andere lehnt sie kategorisch ab. Zwischen diesen Positionen ist es schwierig, eine Brücke zu bauen.»

Taktischer Zug

Ein typisch schweizerischer Kompromiss sei möglich, sagt dagegen Vincent Maitre, der bei der Kommissionssitzung Ende Juni den Vorsitz hatte. Der Mitte-Nationalrat aus Genf ist weniger pessimistisch als Keller-Sutter. «Aber es braucht mehr Informationen und eine gründliche Auseinandersetzung.»

Jetzt nicht auf die Vorlage einzutreten, sei auch ein taktischer Zug gewesen, damit man an der Vorlage weiterarbeiten könne und sie nicht gleich zu Beginn abgewürgt worden sei, sagt Maitre. Eine Ablehnung sei später immer noch möglich. Dann wäre es aber zumindest ein informiertes Nein. «Die Kommission will ein ausgewogenes und neutrales Gesetz schaffen, das die Wirtschaft nicht unnötig belastet. Die heutige Situation ist unbefriedigend, und wir müssen zugeben, dass wir ein grundsätzliches Problem mit dem Zugang zur Justiz haben in der Schweiz.» 

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Tina Berg, Redaktorin
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