Eveline Widmer-Schlumpf, was bedeutet für Sie Mut? 
Mut ist, wenn man aus tiefer Überzeugung Missständen die Stirn bietet, obwohl es nachteilige Konsequenzen haben kann.
 

Wann mussten Sie mutig sein in Ihrem Leben? 
Einige Male. Ich erinnere mich noch gut an jene mündliche Prüfung im Studium. Da hat mich ein Professor gefragt, ob ich einmal heiraten wolle. Als ich bejahte, meinte er, dann könne ich das Studium gleich abbrechen. Ich widersprach. Da drohte er mir eine schlechte Note an. Ich entgegnete: Entweder ich bekomme eine anständige Note, oder ich verklage Sie. Das hat etwas Mut gebraucht.


Wie ging die Geschichte aus? 
Ich habe eine genügende Note bekommen. Aber ich war dennoch völlig perplex.


Perplex?
Ja, perplex, denn sachliche Diskussionen mit diesem Professor habe ich stets geschätzt. Und wenn meine Leistung einmal nicht genügte, war auch klar, dass ich dafür schlecht benotet wurde. Aber dass er Leistung und Note von meinem Geschlecht und von meinen Lebensplänen als Frau abhängig machte, das hat auch meinen Kollegen, der damals zusammen mit mir geprüft worden ist, schockiert. Hätte ich meine Empörung einfach runtergeschluckt, hätte ich mir Ärger erspart. Aber das konnte ich nicht. Ich wollte gleichbehandelt werden.

«Mein Vater sagte uns drei Töchtern: ‹Ihr könnt alles werden – auch Holzfällerinnen. Es ist alles nur eine Frage eures Einsatzes.› Das wurde zu meiner Lebenshaltung.»

Woher kam diese Überzeugung? 
Vom Elternhaus. Mein Vater und meine Mutter haben uns drei Töchtern immer gesagt, es spiele keine Rolle, ob Knabe oder Mädchen. Mein Vater sagte: «Ihr könnt alles werden – auch Holzfällerinnen. Es ist alles nur eine Frage eures Einsatzes.» Das wurde zu meiner Lebenshaltung. Es mag zwar diese spezifischen Unterschiede zwischen Mann und Frau geben. Und ich bin auch sehr gern Mutter und Nona. Aber in fachlicher Hinsicht darf das biologische Geschlecht keine Rolle spielen. 


Wann war in der Politik Ihr Mut gefragt?
Es brauchte sicherlich etwas Mut, als ich 1998 als erste Frau im Kanton Graubünden als Regierungsrätin kandidierte. Ich war Mutter dreier Kinder. Unser Jüngster war damals knapp in der Primarschule. Das hat viele – auch negative – Reaktionen ausgelöst. 


War das mutig?
Mut ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Vielleicht eher Überzeugung. Die Überzeugung, dass es richtig ist, zu dem zu stehen, was man als richtig erachtet. Dass man dafür kämpft und sich damit auch unangenehmen Konsequenzen aussetzt. 


Sie wurden 2007 überraschend in den Bundesrat gewählt – anstelle des amtierenden Bundesrats Christoph Blocher. Brauchte es Mut, dieses Amt anzunehmen? 
Auch hier ist Mut vielleicht nicht der richtige Begriff. Die entscheidende Frage für mich war damals, ob ich unsere parlamentarischen und rechtsstaatlichen Institutionen respektiere oder nicht. Denn das Parlament hatte mich gewählt – so wie es Gesetz und Bundesverfassung vorsehen. Den Respekt gegenüber solchen Institutionen und ihren Kompetenzen – dazu gehören übrigens auch die Gerichte – kann man nicht einfach nur predigen. Da muss man auch entsprechend handeln. Es vorleben. Selbst wenn es mitunter unangenehme Konsequenzen haben kann.

«Wenn Entscheide willkürlich sind, unbegründet oder gar diskriminierend, verspüre ich einen inneren Drang, etwas dagegen zu tun.»

Auf welchem Fundament gründet Ihr Engagement? 
Für mich sind Werte wie Gerechtigkeit, Würde und Gleichheit zentral. Wenn Entscheide willkürlich sind, absolut unbegründet oder gar diskriminierend, verspüre ich einen inneren Drang, etwas dagegen zu tun. Mein Vertrauen in mich selbst und in andere gibt mir die Kraft dazu. 


Manchmal braucht es auch Mut, sich zu entschuldigen. Sie haben sich als erste Bundesrätin bei den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen für das Unrecht entschuldigt, das man ihnen angetan hatte. 
Diese Entschuldigung war für mich selbstverständlich und brauchte keinen Mut. Im Gegenteil: Es hat mich nachdenklich gemacht, dass ich auf dieses Unrecht nicht früher aufmerksam wurde. Kein Professor hatte das während meines Studiums je angesprochen – und auch später war es nie Thema. Wie konnte das sein? Ich war und bin eigentlich kritisch, habe das politische und gesellschaftliche Geschehen intensiv verfolgt, habe mich auch für die Kinder der Landstrasse eingesetzt und kannte die engagierte Fahrende Mariella Mehr persönlich. Aber das Unrecht, das man den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen angetan hatte, war mir bis Anfang der 2000er-Jahre nicht wirklich bewusst.


Ein blinder Fleck? 
Ja, denn das passte überhaupt nicht zu meinen Wertvorstellungen, zu meinen Werten und meiner Haltung. Ich habe mich immer für Leute eingesetzt, die nicht auf der Sonnenseite stehen. Auch als Anwältin. Aber hier hatte ich offenbar tatsächlich einen blinden Fleck.

«Mutige Menschen warnen uns, wenn sich stossende Mechanismen einschleichen.»

Wieso braucht die Schweiz mutige Menschen? 
Weil sich sonst nichts ändert. Mutige Menschen warnen uns, wenn sich stossende Mechanismen einschleichen. Manchmal gewöhnen wir uns allzu sehr an Abläufe, bestehende Machtverhältnisse und Strukturen und nehmen nicht mehr richtig wahr, wem das schadet oder wem damit Unrecht angetan wird. Solche Situationen gibt es immer wieder, gerade im Alltag. Etwa wenn man am Arbeitsplatz schikaniert oder in einem Verband nicht korrekt behandelt wird.


Welche mutigen Menschen haben Sie besonders beeindruckt? 
All die Menschen, die einmal für den Prix Courage nominiert waren oder aktuell dafür nominiert sind. Etwa Natallia Hersche, die sich in Belarus sogar noch in Haft für ihre Rechte und jene der Mitinsassinnen eingesetzt hat. Oder Cindy Kronenberg, die nicht nur das schreckliche Erlebnis einer Vergewaltigung verarbeitet hat, sondern sich nun für Opfer von Sexualverbrechen einsetzt. Oder Nadya und Candid Pfister, deren Kind sich nach wochenlangem Cybermobbing das Leben genommen hat. Diese Menschen erlebten alle furchtbare Situationen. Ich bewundere es, dass sie trotzdem den Mut hatten, an die Öffentlichkeit zu gehen und zu sagen: Wir müssen etwas unternehmen, damit so etwas nicht wieder geschieht. Damit setzt man sich auch dem Unverständnis von gewissen Leuten und der kritischen öffentlichen Diskussion aus.


War das auch Ihre Motivation, das Amt als Präsidentin der Jury des Prix Courage anzunehmen? 
Ja, denn wichtig sind mir nicht die grossen Skandale. Da findet sich immer jemand, der Mut hat und der dafür auch zu Recht gelobt wird. Entscheidend sind die vielen kleinen, alltäglichen Situationen, die Mut erfordern. Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz zum Beispiel, die zum Teil ganz subtil ablaufen. Viele sehen die Missstände, und doch hat niemand den Mut, einzuschreiten, weil man Angst vor den Konsequenzen hat. Da soll der Prix Courage Mut machen, um hinzustehen, den Missstand zu benennen und zu handeln. So kann etwas Gutes entstehen. Und das gibt Hoffnung.

Zur Person

Eveline Widmer-Schlumpf, 67, war von 2008 bis 2015 Bundesrätin der BDP (heute Die Mitte), zuerst als Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, später des Eidgenössischen Finanzdepartements. Seit 1. April 2017 ist sie Präsidentin von Pro Senectute Schweiz, und seit 1. August 2023 präsidiert sie die Jury des Prix Courage des Beobachters.

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