Das Gras steht hoch vor der alten Talstation des Sessellifts Winterhorn. Lila Weideröschen leuchten in der Herbstsonne, Grillen zirpen. Das grosse Rad an der Decke hat sich seit 2009 nicht mehr gedreht. Wo man früher mit nach hinten gestrecktem Po den Sessel abpasste, türmen sich Holzpalette, SBB-Kisten voller Wasserrohre, rostige Armierungseisen. Depot statt Départ.

Vor mehr als 60 Jahren, an einem wolkenverhangenen Tag im Januar, stand an dieser Stelle ein siebenjähriges Mädchen. Es trug ein Kaminfegerkostüm und lächelte, so gut es ging, in eine Fotokamera. Ein langer Bügellift führte den Berg hinauf. Das Mädchen war seine erste Passagierin, es hiess Carmen Melotti. Später heiratete sie und wurde eine Bundi.

Jetzt sitzt Carmen Bundi am Tisch im «Central» und streicht mit den Händen das alte Foto glatt. «Am Mittwochnachmittag rutschten wir Schulkinder mit den Ski hinunter, um die Piste zu machen. Dafür durften wir gratis fahren.» Wehmut empfinde sie nicht, wenn sie heute den Hang hochblicke. «Ich verstehe nur nicht, warum das alles noch nicht abgerissen wurde.»

Vor zwölf Jahren fuhr die Bahn zum letzten Mal aufs Winterhorn. Doch die Masten stehen noch wie Soldaten und trotzen dem bissigen Wind, der hier häufig weht.

Verlassene Orte für Seilbahnfans

Bergbahnen müssen zurückgebaut werden, wenn sie ausser Betrieb sind. So steht es im Seilbahngesetz. Eine Frist dafür gibt es aber nicht. So zieht sich der Abbruch häufig in die Länge – nicht nur in Hospental. Am Grossen St. Bernhard im Skigebiet Super Saint-Bernard rosten auf 2000 Metern eine Gondelbahn und ein Skilift vor sich hin. Seit elf Jahren. Manchmal verirrt sich einer aus der LSAP-Szene dorthin und macht Fotos. LSAP steht für Lost Ski Area Projects. Es sind die Lost Places, die verlassenen Orte der Seilbahnfans.

Das Skigebiet Winterhorn bestand zunächst nur aus einem Skilift, laut Prospekt war es «der stärkste in Europa». 1981 wurde er durch eine Sesselbahn ersetzt und oben durch einen Bügellift erweitert. In der Mitte gab es ein Bergrestaurant, das «Lückli». An schönen Tagen wurde es darin schnell eng. Wer keinen Platz fand, fuhr hinunter ins Dorf zum Mittagessen.

Dort führte Carmen Bundi das «Central», ein Hotel und Restaurant mit Zapfsäule, wo Gotthard- und Furkastrasse zusammenkommen, etwas unterhalb der Talstation. «Zur Blütezeit gingen bei uns täglich 70 bis 100 Mittagessen raus», sagt sie. Tausende Kinder verbrachten ihre Skilager in Hospental. Am Winterhorn wurden FIS-Rennen ausgetragen, und es war beliebt bei Freeridern. Damals nannte man sie noch Tiefschneefahrer.

Niemand hat den Überblick

Doch dem Winterhorn erging es wie vielen kleinen Skigebieten: steigende Ansprüche, steigende Kosten, sinkende Erträge . Nach turbulenten Jahren mit drei Konkursen und zahlreichen Rettungsversuchen waren die Schulden am Ende fast so hoch wie der Berg.

Was bleibt, sind leere Seile und verlotterte Gebäude – Ruinen der alpinen Freizeitindustrie. Wie viele davon gibt es in der Schweiz? Man sucht vergeblich nach einem Amt oder einer Behörde, die den Überblick hat. Es sind aktuell wohl 14 Skigebiete mit 33 Bahnen, die auf den Abriss warten (siehe nachfolgende Karte).

Ob die Zahl zutrifft, ist ungewiss. Für die 661 Bahnen, die mehr als acht Personen zugleich am Seil in der Luft befördern, ist der Bund zuständig. 15 davon stehen mit dem Vermerk «ausser Betrieb» auf einer Liste des Bundesamts für Verkehr. Doch die ist veraltet und wird derzeit überarbeitet.

In diesen Schweizer Skigebieten läuft nichts mehr

Karte: Stillgelegte Skigebiete in der Schweiz

1: Les Hauts-Geneveys NE | 2: Valbirse BE | 3: Grandval BE | 4: Tavannes BE | 5: Schwefelberg BE | 6: Schönried-Rellerli BE | 7: Château-d’Oex VD | 8: Bourg-Saint-Bernard VS | 9: Hospental UR | 10: Locarno TI | 11: San Bernardino GR | 12: Jakobsbad AI | 13: Rietbad SG | 14: Säntis AR

Quelle: bergbahnen.org / Angaben aus den Kantonen BE, GR, VS, VD, NE / Bundesamt für Verkehr / bergfex.ch – Karte: Andrea Klaiber

Für die übrigen 1770 Anlagen sind die Kantone zuständig. Manche wissen, wo die stillgelegten Skilifte stehen, und führen eine Liste, andere nicht. Die meisten wurden zu einer Zeit gebaut, als es noch hiess: «Alles faart Schii.» Keiner dachte an Klimawandel, Investitionsstau oder Konkurrenz durch Billigflüge auf die Kanaren – und schon gar nicht an einen Rückbau.

Wer ist wofür zuständig?

Der grüne Walliser Nationalrat Christophe Clivaz fragte vor kurzem in einer Interpellation, ob man nicht einen Rückbaufonds äufnen sollte. Im Zuge des Klimawandels werde sich das Problem verschärfen. Doch laut Bundesrat fehlt dafür die Rechtsgrundlage. Der Branche stehe es offen, selbst einen Fonds zu schaffen. Der Verband Seilbahnen Schweiz sieht dazu keine Veranlassung. Der Rückbau betreffe nur wenige Anlagen.

Die Abrisskosten können in die Millionen gehen. Alte Bahnen gammeln oft jahrelang vor sich hin, weil unklar ist, wer was bezahlen muss. Wenn die Betreiberin bankrott ist, muss laut Gesetz der Grundeigentümer aufkommen. Doch das ist leicht gesagt. «Die Strukturen sind vielerorts komplex, und man muss erst einmal aufdröseln, wer wofür zuständig ist», sagt Maren Kern von der Alpenschutzorganisation Mountain Wilderness Schweiz.

Viele Standortgemeinden verzögern den Abbruch auch, weil sie glauben, die Anlage werde einst wieder laufen. Wenn die Skilifte nicht mehr fahren, läuft auch sonst vieles nicht mehr im Dorf. Zudem hängen an den Bahnen nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Gefühle.

Chinesische Investoren? 

Auch in Hospental war die Berg-und-Tal-Fahrt nicht zu Ende, nachdem der letzte Sessel seine Runde gedreht hatte. Mal las man von chinesischen Investoren, die angeblich kurz vor der Vertragsunterzeichnung standen, dann war von einem interessierten Bahnbetreiber aus der Innerschweiz die Rede. Es blieb bei Ankündigungen und Beinahe-Abschlüssen.

2009 schrieb man das ganze Skigebiet auf der Auktionsplattform Ricardo aus. Fixpreis: 250'000 Franken. Das gab 55'000 Klicks, viele Schlagzeilen – aber keinen Käufer. Auch auf Gelder vom Staat konnte man nicht mehr hoffen, machte die Urner Regierung klar. 2011 lief die Konzession aus. Die Sportbahnen gingen in Konkurs.

Ein folgenschwerer Deal

In der Nachbargemeinde Andermatt wurde derweil mit der grossen Kelle angerührt – und das Winterhorn dafür geopfert. So sehen es zumindest die Hospentaler. Während sie weiter nach Geldgebern Ausschau hielten, um ihr Winterhorn aus dem Dornröschenschlaf zu wecken, fädelte der Kanton einen folgenschweren Deal ein: Der Hospentaler Hausberg wurde als Ausgleichsfläche für den Ausbau der Skiarena Andermatt-Sedrun hergegeben.

Im Januar 2013 unterzeichneten die Andermatt-Sedrun Sport AG (ASS), die Umweltverbände und der Kanton Uri eine Vereinbarung. Die ASS verpflichtete sich, bis spätestens Juni 2022 für den Rückbau der Anlagen am Winterhorn zu sorgen, und der Kanton Uri versprach, das Gebiet unter Landschaftsschutz zu stellen. Im Gegenzug gaben die Umweltverbände ihren Segen zum Ausbau der Skiarena in Andermatt. Das Schicksal des Winterhorns war besiegelt.

Ein Detail ging vergessen: Das Winterhorn gehört der Korporation Ursern, der Bürgergemeinde des ganzen Urserntals. Sie hat den Vertrag genauso wenig unterschrieben wie die Standortgemeinde Hospental. «Wie wenn Sie einen Garten haben und der Kanton dem Nachbarn Ihre Gemüseernte verspricht», sagt Beat Schmid, Talammann der Korporation.

«Die Regierung hat das Winterhorn verkauft – hinter unserem Rücken.»

Andreas Schmid, Wirt des Restaurants «Zum Dörfli» und ehemaliger Gemeindepräsident von Hospental UR

Andreas Schmid, ehemaliger Gemeindepräsident von Hospental UR.

Quelle: PASCAL MORA

Die Gemeinde Hospental wurde nicht mal informiert über die Vertragsunterzeichnung. Andreas Schmid, Wirt im Restaurant Zum Dörfli, wo Winterhorn-Freerider häufig einkehrten, war damals gerade sechs Tage als Gemeindepräsident im Amt. Er erfuhr aus der Zeitung vom Kuhhandel. «Zuerst lief es mir kalt den Rücken runter. Dann ergriff mich eine Wut», sagt er. Sie ist bis heute nicht ganz verflogen. Man habe Andermatt gross gemacht und den Rest des Urserntals ins Gras beissen lassen. «Die Regierung hat das Winterhorn verkauft – hinter unserem Rücken.»

Doch vielleicht war dieser Fauxpas für die Hospentaler ein Glücksfall. Sie sehen ihre Verhandlungsposition jedenfalls gestärkt. Andreas Schmid leitet die 2009 ins Leben gerufene Arbeitsgruppe der Gemeinde für die touristische Neuausrichtung des Winterhorns. Er sagt: «Die Regierung schuldet uns etwas.»

Termin beim aktuellen Gemeindepräsidenten Rolf Tresch. Er will nicht durchs Dorf führen und erzählen, was daraus geworden ist, seit die Lifte stillstehen. Er zeigt lieber Pläne: Eine kleine Seilbahn schwebt ihm vor, ein Berggasthaus, Wanderwege, eine Schlittelbahn. Möglichkeiten zum Skifahren, aber ohne Piste, versichert er. «Sanfter Tourismus, naturnah.» Der Kanton hat eine Machbarkeitsstudie mitfinanziert. «Das tut man ja nicht, wenn es chancenlos wäre», sagt Rolf Tresch. Statt zurück schaut er lieber nach vorn.

Umweltverbände sind irritiert

Bei den Umweltverbänden stösst der Plan auf wenig Gegenliebe. «Eine neue Bahn kommt nicht in Frage», heisst es einhellig bei Mountain Wilderness, WWF, Pro Natura und der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz. Von Vertragsbruch ist die Rede. Es löse Befremden aus, dass der Kanton Uri dafür eine Studie mitfinanziert.

«Das steht im Widerspruch zur Rückbauvereinbarung», sagt Fabian Haas vom WWF Uri. Pia Tresch von Pro Natura Uri muss aber auch ein wenig schmunzeln: «Es ist natürlich schlitzohrig, jetzt diese Vereinbarung in Frage zu stellen. Die Lifte laufen schon lange nicht mehr. Zum Rückbau ist man so oder so verpflichtet.»

Carmen Bundi, die als kleines Mädchen die Jungfernfahrt am Skilift Winterhorn bestritt, bleibt gelassen. Eine neue Seilbahn werde ohnehin nie gebaut, sagt sie. «Visionen kann ich auch haben, aber umsetzen muss man sie können. Wer soll das denn finanzieren?» Ihr Hotel hat sie vor zwei Jahren geschlossen – aus Altersgründen. Die Zapfsäule läuft noch. Benzin braucht es immer.

Derzeit läuft in Hospental vieles parallel. Der Kanton hat den Schutzzonenplan in die Vernehmlassung gegeben, die Gemeinde entwickelt Visionen für einen touristischen Neuanfang, die Andermatt-Sedrun Sport AG erstellt ein Rückbaukonzept. Die Frist bis Juni 2022 könne man aber wohl nicht einhalten. Viele Fragen seien noch offen, auch zur Finanzierung. Man fühle sich nicht verpflichtet, die gesamten Kosten allein zu tragen. «Wir sind nicht die Eigentümer», heisst es bei der ASS. Doch auch die Korporation Ursern sperrt sich. «Wir haben diesen Vertrag ja nicht unterschrieben», sagt Talammann Beat Schmid.

Im sankt-gallischen Degersheim hat die Armee Ende August einen stillgelegten Skilift gesprengt. Am Winterhorn dürfte es noch eine Weile dauern, bis sich in dieser Richtung etwas bewegt.

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