Das Radar hat die feindliche Drohne entdeckt. Sofort richtet die Kanone ihren Lauf aus. Automatisch wird die Distanz zum Ziel berechnet – und die Geschwindigkeit, mit der das Projektil abgeschossen wird. Ein eingebauter Chip zählt den Countdown. Die Kanone feuert 17 Projektile pro Sekunde in den Himmel. Kurz bevor sie auftreffen, platzen sie in 1000 Einzelteile, damit die Drohne in einer bleiernen Wolke zerschellt.

«Unser Flugabwehrsystem ist eine technologische Meisterleistung. Wir treffen einen Einfränkler auf zwei Kilometer Distanz», berichtet Fabian Ochsner. Er ist Chef von Rheinmetall Air Defence, einer der grössten Waffenschmieden der Schweiz und Tochter der deutschen Rheinmetall. Das Flugabwehrsystem wird mitten in Zürich entwickelt.

Ochsners Geschäfte laufen ausgezeichnet. Seit Statistik geführt wird, haben Schweizer Firmen noch nie so viel Kriegsmaterial verkauft wie 2020. Eine gemeinsame Recherche von Beobachter und «Blick» zeigt nun: In den Fabrikhallen von Rheinmetall Air Defence in Zürich-Oerlikon werden derzeit die Waffen für einen der grössten Rüstungsdeals der letzten 20 Jahre gebaut.

Im nächsten Frühling werden zwei Flugabwehrsysteme nach Katar exportiert. Der Liefertermin ist kein Zufall. Sie sollen die Stadien der Fussballweltmeisterschaft 2022 vor Drohnen und Raketen schützen. Verkaufspreis: rund 200 Millionen Franken. Die Marke Schweiz zieht auch bei Kanonen als Verkaufsargument.

Rekord bei Kriegsmaterial-Exporten

Infografik: Rekord bei Kriegsmaterial-Exporten
Quelle: Seco – Infografik: Anne Seeger
Grosse Kritik an Fussball-WM in Katar

Seit der ehemalige Fifa-Präsident Sepp Blatter am 2. Dezember 2010 bei einem Kongress in Zürich das Couvert öffnete und den Veranstalter Katar präsentierte, steht die Weltmeisterschaft im Ölstaat in der Kritik. Die Bundesanwaltschaft ermittelt seit Jahren wegen mutmasslicher Schmiergeldzahlungen bei der Vergabe.

Beim Bau der Stadien waren Millionen von Gastarbeitern rechtlos und mussten unter prekärsten Bedingungen arbeiten. Gemäss Recherchen des «Guardian» starben 6500 Gastarbeiter aus Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesch und Sri Lanka seit der WM-Vergabe. Die britische Zeitung stützt sich auf offizielle Statistiken. Die katarische Regierung hat den Bericht nicht dementiert.

Die Situation hat sich in den letzten Jahren verbessert. Trotzdem mehren sich die Boykottaufrufe, je näher die WM rückt. Vor kurzem posierte die deutsche Nationalmannschaft vor einem WM-Qualifikationsspiel mit «Human Rights» auf den Leibchen. Eine niederländische Gärtnerei, die für die grossen Fussballturniere jeweils die Rasen züchtet, weigert sich, nach Katar zu liefern.

Bauarbeiter im Jahr 2019 im Lusail-Stadion in Doha (Katar)

Tausende starben für die Fussball-WM 2022: Bauarbeiter im Lusail-Stadion in Doha (Katar), 2019

Quelle: Reuters/Kai Pfaffenbach
Ausnahmeregelung: Bund gibt trotz Zweifeln grünes Licht

Aus der Beurteilung des Ausfuhrgesuchs von Rheinmetall Air Defence geht hervor: Die Menschenrechtslage in Katar beunruhigt auch das Aussendepartement EDA unter Bundesrat Ignazio Cassis. «Katar verletzte zum Zeitpunkt der Gesuchsbeurteilung 2019 insbesondere aufgrund der Situation der Arbeitsemigranten sowie der Einschränkungen der Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit die Menschenrechte systematisch und schwerwiegend.»

Dennoch gab das Amt grünes Licht für den Millionendeal. Der Grund ist eine Ausnahmeregelung der Kriegsmaterialverordnung (KMV), die der Bundesrat 2014 einführte. Seither darf selbst in Länder mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen Kriegsmaterial geliefert werden, sofern ein geringes Risiko besteht, dass es für Menschenrechtsverletzungen verwendet wird. Etwa bei den Flugabwehrsystemen für Katar. «Darum gelangte das EDA zur Einschätzung, dass der Export dennoch gemäss KMV bewilligt werden kann.»

Korrektur-Initiative will Verbot von Waffenlieferungen in kritische Länder

Diese Ausnahmeregelung ist politisch umstritten. Eine Allianz aus SP, Grünen, GLP und BDP hat 2018 die Korrektur-Initiative lanciert, die ein generelles Verbot der Ausfuhr von Kriegsmaterial in Länder wie Katar fordert, die Menschenrechte systematisch und schwerwiegend verletzen. Auch die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) und Kirchenverbände gehören zu den Initianten. Sie wollen den Entscheid des Bundesrats korrigieren und zeigen ihm auf ihrer Website sinnigerweise die rote Karte.

«Damit würde eine solche Bewilligung für Rheinmetall Air Defence unwahrscheinlicher», sagt Evelyne Schmid. Sie ist Professorin für internationales Recht an der Universität Lausanne. Eine Bewilligung wäre allerdings auch mit der Korrektur-Initiative nicht ausgeschlossen. Der Bundesrat hätte immer noch die Möglichkeit, die Menschenrechtslage positiver zu beurteilen. Gerade bei defensiven Waffen entschied er jeweils zugunsten der Rüstungsindustrie.

Welche Rolle spielen Seco, EDA und Bundesrat?

Dass zwischen defensiven und offensiven Waffen unterschieden wird, steht nicht im Gesetz. Trotzdem handeln der Bundesrat und die Verwaltung danach. Die Waffen dürfen sich nicht «destabilisierend auf Frieden, die internationale Sicherheit und die regionale Stabilität» auswirken, schreibt das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Es ist federführend bei der Bewilligung für den Export von Kriegsmaterial. Das EDA nimmt Stellung dazu. Wenn sich die beiden Ämter nicht einig sind, entscheidet der Bundesrat.

Bei den Flugabwehrsystemen für Katar bestehe keine Gefahr, dass sie etwa im Jemen-Konflikt verwendet würden, schreibt das Seco. Seit 2015 tobt dort ein grausamer Bürgerkrieg, der mit Luftangriffen von Saudi-Arabien begann. Im Jemen herrscht eine der grössten humanitären Krisen weltweit.

«Die Welt wird ohne unsere Flugabwehrsysteme nicht friedlicher.»

Fabian Ochsner, CEO Rheinmetall Air Defence

Zum Glück, findet Fabian Ochsner, unterscheide Bern zwischen defensiven und offensiven Waffen. Es sei eine edle Aufgabe, Staaten das Recht zu ermöglichen, sich zu verteidigen. «Wir sind keine Kriegsgurgeln, wir sind Realisten. Die Welt wird ohne unsere Flugabwehrsysteme nicht friedlicher.» Ein Boykott von Geschäften mit Katar kommt für ihn darum «klar nicht in Frage».

Rechtsprofessorin Evelyne Schmid widerspricht und weist darauf hin, dass Flugabwehrsysteme den Spielraum für Streitkräfte erhöhten, auch offensive Konflikte zu führen. «Das kann wiederum die regionale Stabilität gefährden und zu Verletzungen des humanitären Völkerrechts führen. Bei der Kriegsführung Saudi-Arabiens im Jemen-Konflikt konnte man das beobachten.»

Ölmilliarden für Kampfjets und Panzer: Katar rüstet stark auf

Auch Pieter Wezeman, Nahostexperte des Friedensforschungsinstituts Sipri, sieht eine erhöhte Gefahr, dass Katar in zukünftige Konflikte verwickelt wird. Das Land sei zwar seit 2017 nicht mehr Teil der von Saudi-Arabien geführten Militärkoalition, die im Jemen kämpft. Es sei aber bestrebt, eine Regionalmacht zu werden.

Dafür rüstet der Golfstaat militärisch auf. Zum Beispiel bei Kampfjets: «Während die Schweiz seit Jahren über die Wahl des richtigen Flugzeugs debattiert, kaufte Katar gleich über 100 von drei verschiedenen Herstellern. Und das bei einer Bevölkerung, die etwa dreimal kleiner ist als die der Schweiz», sagt Wezeman. Die Ölmilliarden fliessen in Kampfjets, Panzer und nun eben Schweizer Flugabwehrsysteme.

«Die Bedrohungslage während der Weltmeisterschaft halte ich für überschaubar.»

Roland Popp, Nahostexperte

Die veränderte Bedrohungslage in der Region sei wohl der wahre Grund für den Kauf der Flugabwehrsysteme – nicht die WM, sagt Roland Popp, Nahostexperte an der Militärakademie der ETH Zürich. «Militärische Drohnen, Marschflugkörper und Raketen sind sehr viel präziser geworden.» Einige nahöstliche Staaten seien seit kurzem in der Lage, Ziele aus grosser Distanz metergenau aus der Luft anzugreifen.

«Die Bedrohungslage während der Weltmeisterschaft halte ich für überschaubar», sagt Popp. Katar sei sehr engmaschig überwacht. Verglichen mit anderen Grossereignissen sei die Gefahr eines terroristischen Anschlags geringer. Zudem unterhalte Katar mit internationalen und regionalen Mächten enge Beziehungen, gerade mit den USA, die einen wichtigen Militärstützpunkt im Land betreiben. Aber auch zum Iran pflegten die Katarer gute Beziehungen, sagt Popp. «Darüber hinaus unterhalten sie langjährige Kontakte zu extremistischen und dschihadistischen Gruppen, was letztlich auch vor potenziellen Angriffen schützen wird.»

Pulverfass Nahost: Geschäftsrisiken sind unberechenbar

Dass Katar die WM zur Aufrüstung nutzt, bestreitet auch Fabian Ochsner von Rheinmetall Air Defence nicht. Die Verhandlungen begannen bereits 1995. «Das ist ähnlich, wie wenn die Schweiz ein neues Bodluv-System braucht», eine bodengestützte Luftverteidigung, sagt Ochsner. Die Planung sei langfristig, die Kosten seien selbst für katarische Verhältnisse hoch. Erst der Fussball öffnete die Portemonnaies der Scheichs.

Anders als Armeebeschaffungen in der Schweiz sind Deals im Pulverfass Nahost immer mit Geschäftsrisiken verbunden. «Eine Bewilligung kann jederzeit entzogen werden, wenn sich die Lagebeurteilung ändert», sagt Fabian Ochsner. Nach dem Mord am regierungskritischen Journalisten Jamal Khashoggi im Oktober 2018 etwa wurden sämtliche Bewilligungen für Waffenexporte nach Saudi-Arabien gestoppt. Das gehöre zum Geschäft.

Seinen 200-Millionen-Deal für die Weltmeisterschaft stoppt wohl nichts mehr – ausser vielleicht die Spedition. Der Transport der gigantischen Kriegsmaschinen sei schwieriger geworden, sagt Ochsner. «Wir hatten einmal sogar Mühe, die Holzattrappe eines Flugabwehrsystems in einen Flieger zu kriegen.» Als die Piloten die Kanonen sahen, weigerten sie sich, die Fracht mitzunehmen. «Bis zum Zeitpunkt, wo wir das System in ein Flugzeug oder Schiff laden, ist nichts sicher.»

Hinweis

Diese Recherche ist im Rahmen der Diplomarbeit an der Ringier Journalistenschule entstanden. Lukas Lippert und Ladina Triaca gehören zur aktuellen Klasse, die die zweijährige Ausbildung im Sommer 2021 abschliesst.

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