Es klang wie eine gute Nachricht, und die Medien verbreiteten sie gern. In der Schweiz müsse man weniger lang arbeiten als im Ausland, um sich eine Wohnung kaufen zu können, stellte eine Raiffeisen-Studie neulich fest. Konkret: Für eine typische 90-Quadratmeter-Wohnung zahlt ein Durchschnittshaushalt 8,5 Jahreseinkommen – in allen Nachbarländern ist mehr nötig.

Warum also die ständigen Klagen, dass sich hierzulande kaum jemand Wohneigentum leisten kann? Sind das vielleicht «Phantomschmerzen einer Wohlstandsgesellschaft», wie es die Studienautoren provokant formulierten? Oder einfach Frust, weil Kaufen früher noch günstiger war? Nein, denn Wohneigentum liegt nur noch für die wenigsten drin.  Jedenfalls solange sich nichts an den Spielregeln ändert.

Kapital und Einkommen

Zunächst ein Zahlenbeispiel: Laut Studie kostete 2020 ein durchschnittliches Fünf-Zimmer-Haus 1,2 Millionen Franken. Zehn Jahre zuvor reichten 800'000 Franken. Damals benötigte man für 20 Prozent Eigenkapital 160'000 Franken, nun bereits 240'000. Happig – aber vielleicht noch machbar, mag man denken, mit einem Erbvorbezug oder Pensionskassengeld, wer weiss. 

Nun wird es schwieriger. Denn auch das verlangte Jahreseinkommen ist drastisch gestiegen: auf 210'000 statt 140'000 Franken. Bloss, wer verdient heute 70'000 Franken mehr als vor zehn Jahren? Wo doch die Löhne nur um fünf Prozent gestiegen sind? Die Raiffeisen-Ökonomen stellen fest: «Wohneigentum ist damit je länger, je mehr nur noch für privilegierte Bevölkerungsschichten ein realisierbarer Traum.»

Dabei wäre Wohnen im Eigentum billiger als Mieten. Nach Schweden ist die Schweiz das Land, in dem sich Kaufen am meisten auszahlt. Aber fast nirgendwo ist es so schwer, als «eigentumsfähig» zu gelten. Die niedrige Wohneigentumsquote von 36 Prozent hat ihren Preis: Gemäss der Raiffeisen-Studie hätte der Mittelstand jährlich mindestens zwei Milliarden Franken mehr im Portemonnaie, wenn die Quote um zehn Prozentpunkte höher wäre. 

Störende Fünf-Prozent-Regel

Dass nicht mehr Leute Wohneigentümer sind, liegt auch an den Spielregeln für die Finanzierung. Konkret: am sogenannten kalkulatorischen Zinssatz. Die Faustregel lautet so: Eine Hypothek gilt als tragbar, wenn maximal ein Drittel des Haushaltseinkommens ausreicht, um Zinsbelastung, Nebenkosten und Amortisation zu berappen – und zwar bei einem Zins von fünf Prozent.

Nur: «Mit Zinsen in dieser Höhe rechnet auf Jahrzehnte hinaus fast niemand mehr», sagt Studienautor Francis Schwartz. Eine zehnjährige Festhypothek gibt es für unter 1,5 Prozent. Die Fünf-Prozent-Regel ist den Banken weder von der Aufsichtsbehörde Finma noch von der Bankiervereinigung konkret vorgegeben.

Die Hypothekenvermittlerin Moneypark kritisierte bereits Anfang 2020, dass die Banken am Zins von fünf Prozent festhalten. Diese dagegen argumentieren oft damit, dass ein niedrigerer Zins mehr Nachfrage und steigende Preise zur Folge hätte, so dass für die Käufer gar nichts gewonnen wäre. 

«Es ist sozialpolitisch bedenklich, dass Menschen in überteuerten Mietwohnungen leben müssen, obwohl Wohneigentum wesentlich günstiger wäre und zu tieferen Lebenskosten führen würde.»

Stefan Heitmann, CEO von Moneypark

Laut Moneypark wird bei 40 Prozent der Hypotheken die kalkulatorische Tragbarkeit nicht mehr erreicht; sie würden nur als «Exception to Policy», als Ausnahme von der Regel, vergeben. Die Bankiervereinigung bestätigt diese Zahl nicht, geht aber auch davon aus, dass es mehr Ausnahmen als früher gibt. Sie findet das nicht problematisch, da die vereinbarten Amortisationen dafür sorgen würden, dass nach einer Weile die Tragbarkeit wieder erreicht wird.

Diesen Sommer werden laut Moneypark-Chef Stefan Heitmann die Tragbarkeitsbedingungen sogar noch deutlicher verfehlt als im Vorjahr. Etwa bei diesem Aargauer Ehepaar, 64 und 68 Jahre alt: Gemäss Tragbarkeitsrechnung würden sie für die Hypothek 46 Prozent ihres Einkommens zahlen. Weil die Immobilie nur noch zu 40 Prozent belehnt war, liess die Bank die Hypothek weiterlaufen. In der Regel, so Heitmann, finde man bei bisherigen Eigentümern eine Lösung. Dann könne etwa ein Vermögensverzehr eingerechnet werden, damit die Rechnung auch mit fünf Prozent Zins aufgeht. 

Einsteiger ausgebremst

«Schwieriger wird es in den Fällen, in denen jemand eine neue Immobilie kaufen möchte, das Einkommen aber für die Berechnung der Tragbarkeit nicht reicht», sagt Heitmann. Für junge Familien etwa sei es oft nur schon schwer, herauszufinden, wer vielleicht doch ihr Projekt finanzieren würde, auch wenn es auf dem Papier nicht tragbar ist. «Die Dunkelziffer der eigentlich finanzierbaren Fälle dürfte beträchtlich sein.»

Gemäss Raiffeisen-Studie ist die Schweizer Tragbarkeitsrechnung einzigartig in Europa. Die meisten Länder haben flexible Sicherungssysteme, die sich an den tatsächlichen Zinsen orientieren. In Deutschland etwa gilt die Regel, dass man die monatliche Rate aus dem Nettoeinkommen abzüglich Lebenshaltungskosten zahlen können muss. Meist werde eine zehnjährige Hypothek mit fixen Raten abgeschlossen, sagt Studienautor Schwartz. «Entsprechend bestimmt in Deutschland das gerade herrschende Zinsniveau, was tragbar ist und was nicht.»

Die unverbindliche Faustregel lautet dort: Eine Hypothek gilt als tragbar, wenn sie nicht höher ist als das 110-Fache des monatlichen Nettoeinkommens – bei 3000 Euro im Monat also 330'000 Euro. Rechnet man das auf Schweizer Bedingungen um, zeigt sich: Hierzulande darf die Hypothek nur etwa das 85-Fache des Nettoeinkommens betragen. Die Schweizer Regeln seien restriktiver als die deutschen, bestätigt Francis Schwartz.

Zu viel Angst

Überschätzt man in der Schweiz die Gefahr steigender Zinsen? «Klares Ja», sagt Stefan Heitmann von Moneypark. «Ein starker Zinsanstieg ist auch auf mittlere und lange Sicht kein Thema.» 80 Prozent seiner Kundinnen und Kunden schliessen Hypotheken über zehn oder mehr Jahre ab und sichern sich den tiefen Zinssatz für lange Zeit.

Wenn man das eingesparte Geld zur Amortisation verwende, gerate man auch trotz kalkulatorisch überschrittener Tragbarkeit nicht in finanzielle Engpässe. «Es ist sozialpolitisch bedenklich, dass Menschen in überteuerten Mietwohnungen leben müssen, obwohl Wohneigentum wesentlich günstiger wäre und zu tieferen Lebenskosten führen würde», sagt Heitmann. 

Moneypark hat berechnet, was passieren würde, wenn man die Differenz zwischen kalkulatorischem und tatsächlichem Zinssatz zur Amortisation verwenden würde. «Das Ergebnis ist verblüffend: Schon nach 18 Jahren wäre die Hypothek praktisch abbezahlt.»

Buchtipp
Der Weg zum Eigenheim
Buchcover Der Weg zum Eigenheim

Heitmann hat Anfang 2020 ein Modell vorgeschlagen, bei dem der kalkulatorische Zinssatz von der Laufzeit der Festhypothek abhängt. Zum Beispiel wird bis zehn Jahre ein Satz von 4,5 Prozent angewandt, pro zusätzliches Laufzeitjahr 0,1 Prozentpunkte weniger. Somit läge er für eine 15-jährige Festhypothek bei 4,0 Prozent.

Ausserdem sollten die Kreditgeber realistische individuelle Lebenshaltungs- und Nebenkosten statt pauschaler Formeln verwenden. So bräuchte man für dieselbe Immobilie weniger Einkommen. Dann stiege zwar die Nachfrage nach Wohneigentum, aber eine Überhitzung des Immobilienmarkts befürchtet er nicht. 

Ungünstiger Zeitpunkt

Hat sich seither in der Finanzbranche etwas bewegt? «Grundlegende Veränderungen gab es leider nicht», sagt Heitmann. Eine Pandemie sei nicht günstig, um neue Ansätze auszuprobieren. Zudem vermutet er, dass die massenhaften Ausnahmen den Banken nicht ungelegen kommen.

Denn diese Kunden verdienen nach seiner Beobachtung oft gut und wollen sich ein teures Eigenheim leisten. Hier winken Zusatzgeschäfte. Wenn man die jetzigen Ausnahmen zum Normalfall erklären und so die Transparenz erhöhen würde, gäbe es wohl mehr Anbieter. Und die bisherigen Geldgeber würden wohl nicht mehr so hohe Margen durchsetzen können.

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Wer Wohneigentum erwerben will, ist in der Regel auf fremde Mittel angewiesen. Verschiedene Institute gewähren entsprechende Kredite in Form von Hypotheken. Beobachter-Abonnenten erfahren nicht nur, welche es gibt, sondern worauf man generell bei der Finanzierung von Wohneigentum achten sollte.