Geschichten aus der Nachbarschaft

Nachbarinnen und Nachbarn erleichtern unser Leben, helfen, wenn das Salz ausgeht, tragen schwere Einkaufstaschen die Treppen hoch. Oder aber sie machen uns die Hölle heiss, beklagen sich über ein nicht ordnungsgemäss angebrachtes Schuhgestell, schimpfen über lautes Kinderlachen, petzen bei der Verwaltung. 

Nachbarschaft ist ein soziales Phänomen, das zwar alle kennen, aber ganz unterschiedlich aufgefasst wird. Über die Feiertage erzählen Angehörige der Beobachter-Redaktion, was sie mit ihren Nachbarinnen und Nachbarn erlebt haben.

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Irgendwann lag dieser gelbe Zettel im Briefkasten, darauf in Schnüerlischrift: «Wer diese feinen Bratwürscht grillierte, hat viel Gefühl und sollte weitermachen.» Keine Unterschrift. Dafür die i-Punkte als Herzchen. Das Papier hängt seither an der Pinnwand in der Küche. Einmal im Jahr schaue ich es mir an, als Motivationsspritze. Denn ich weiss: Die oder der Unbekannte wird wiederkommen, wenn ich am Grill stehe. Ich muss liefern.

Das Grillieren ist meine Zuständigkeit im Organisationskomitee. Vor einigen Jahren haben wir damit begonnen, ein Hoffest für unsere Reihenhaussiedlung aufzuziehen. Kein Firlefanz, einfach Tische, Bänke, eine Lichtergirlande und etwas Musik. Es funktioniert. Einen schönen Sommerabend lang sitzen wir dann unter Nachbarn zusammen, fast alle sind dabei. 

Unser kleines Fest liefert wunderbare Momente einer unausgesprochenen Verbundenheit. Etwa wenn die einstigen Kinder der Siedlung, längst flügge geworden, für ein paar Stunden zurückkehren und ihre Gspänli von damals wiedersehen. Die rotbackigen Buben, die mit Holzstecken durch die Gärten gezogen sind, tragen heute Bart und schwören immer noch Stein und Bein, dass es nicht sie waren, die die Himbeerstauden ausgerissen hatten. 

Manchmal wird es auch traurig. Etwa wenn der Unternehmer von nebenan von seinem zukunftsträchtigen Start-up schwärmt – um im nächsten Atemzug zu erzählen, dass er unheilbar krank ist. Oder dann berührt es einen, wenn die ukrainische Familie, die wir zum ersten Mal unter uns hatten, in der Warteschlange am Grill sagt: «Wir sind glücklich, jetzt zu euch zu gehören.»

Am Morgen nach dem Fest trifft sich das OK immer zum gemeinsamen Zmorge, bevor es ans Aufräumen geht. Wir berechnen, wie gross das Defizit diesmal ist. Wir bezahlen es aus dem eigenen Sack. Dann sagen wir uns immer: «Das könnte ja auch mal jemand anders machen.» Könnte, könnte … Bei mir in der Küche hängt das gelbe Zettelchen, und da steht, ich «sollte weitermachen». Okay, einmal noch.

Welcher Nachbarschaftstyp sind Sie?

Die Distanzierten (47 Prozent der Bevölkerung)

Ihnen sind Abstand, Diskretion und Unabhängigkeit wichtig, sie möchten weder gestört werden noch jemandem zurLast fallen. Im Notfall sind sie aber zur Stelle. Und ab und zu schätzen sie auch zweckorientierte Treffen.

Die Inspirationssuchenden (30 Prozent)

Für sie stehen Toleranz und anregende Begegnungen im Vordergrund. Inspirationssuchende schätzen kollektive, sinnerfüllte Aktionen und Vielfalt und suchen den Blick überden eigenen Tellerrand hinaus.

Die Beziehungspflegerinnen und -pfleger (14 Prozent)

Sie wünschen sich ein freundschaftliches, fast familiäres Verhältnis in einer homogenen, harmonischen Nachbarschaft. Sie legen Wert auf enge Kontakte, Gemeinschaftsaktivitäten und gegenseitige Unterstützung im Alltag.

Die Wertorientierten (9 Prozent)

Sie möchten unter Leuten leben, die ähnliche Ansichten teilen. Statt enger Beziehungen wünschen sich Wertorientierte respektvolle Distanz und einen rücksichtsvollen Umgang miteinander. Sie sind hilfsbereit. Im Alltag reicht ihnen ein gelegentlicher Austausch im Treppenhaus.

Quelle: «Hallo Nachbar:in. Die grosse Schweizer Nachbarschaftsstudie» des Gottlieb-Duttweiler-Instituts, August 2022. Um die Studie einzusehen, hier klicken.