Für einen kurzen Moment war sie unbeaufsichtigt. So konnte sich Verena W.* Zugang zum Telefon verschaffen. Sie rief einen Verwandten an und flehte um Hilfe. Es war der 14. April 1957.

Tags darauf stand der Verwandte mit einem befreundeten Polizisten in Zivil vor der Tür. Sie stellten die Pfarrersfrau zur Rede. Erst nach längerem Disput liess die Hausherrin die beiden zu Verena W. vor. Im ersten Stock des Pfarrhauses fanden sie die 24-Jährige. Sie stand nackt im gänzlich leeren Zimmer, bis auf die Knochen abgemagert, mit kahlgeschorenem Kopf, die Hände mit einer Kette gefesselt, Riss- und Quetschwunden an den Beinen, Striemen am Rücken.

Der Fall zog weite Kreise. Die Zeitungen berichteten über die brutale Pfarrersfrau von Berg TG. Als sie zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt wurde, schrieb der Beobachter im Januar 1959: «Mit unerhörter Grausamkeit hatte die 35-jährige Frau ihr […] Dienstmädchen während eines vollen Jahres seelischen und körperlichen Torturen ausgesetzt, die in der Geschichte der schweizerischen Kriminalistik ihresgleichen suchen.»

25'000 Franken Entschädigung

Fast 60 Jahre später sitzt Verena W. im Aufenthaltsraum eines St. Galler Altersheims. Sie strahlt und sagt: «Ja, ein Fest zum 85. Geburtstag, das wäre schön!» Mit Geschwistern und Freunden. Oder eine Reise ins Puschlav. So etwas würde sie sich gern gönnen.

Der Grund der Freude: Als eine der ersten von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen Betroffenen erhielt Verena W. einen Solidaritätsbeitrag von 25'000 Franken zugesprochen. «Dieser Beitrag ist ein Zeichen der staatlichen Anerkennung des zugefügten Unrechts und soll zur Wiedergutmachung beitragen», schrieb ihr das Bundesamt für Justiz. Unter den Dokumenten, die der Beistand von Verena W. beim Bundesamt einreichte, war auch der Artikel des Beobachters.

Ein steiniger Weg zur Anerkennung

Noch bis Ende März 2018 können ehemalige Verdingkinder, administrativ Versorgte, Zwangssterilisierte, Zwangsadoptierte, Heimkinder und andere von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen Betroffene beim Bund einen Solidaritätsbeitrag beantragen.

Die Entschädigungsbeiträge sind unpfändbar und unterstehen nicht der Einkommenssteuer. Betroffenen können auch keine Ergänzungsleistungen gestrichen werden.

Bis jetzt wurden erst rund 5000 Gesuche eingereicht, Experten schätzen die Zahl der Berechtigten auf 15'000 bis 20'000. Das Anerkennungsprozedere schreckt viele ab. Sie scheuen sich, erneut mit ihrer Geschichte konfrontiert zu werden, misstrauen bis heute allen Behörden oder fürchten eine erneute Demütigung.

In einem Fall scheiterte die Auszahlung an einer absurden Formalität. Das Bundesamt für Justiz wies ein gut dokumentiertes Gesuch mehrfach ab, weil der Antragsteller in Spanien lebt. Er müsse erst auf einer Schweizer Vertretung eine «Lebensbestätigung» einholen. Der Mann fragt sich, warum ihm die Rente jeden Monat problemlos ausgezahlt wird und er nun trotzdem 150 Kilometer reisen muss – für eine Bestätigung, dass er noch lebe.

Nachdem sich der Beobachter eingeschaltet hatte, versicherte das Bundesamt für Justiz, auf das Bestätigungsprozedere zu verzichten.

 

Hier finden Betroffene Hilfe

Ungeschehen macht das Geld ihr Leid nicht. Aber es ist eine späte Genugtuung. Für ein Leben, das die Hölle war. Der Untersuchungsrichter hielt damals fest, dass die Pfarrersfrau Verena W. zwischen August 1956 und April 1957 teilweise mehrere Tage und Nächte hintereinander nackt in das ungeheizte Zimmer sperrte. Sie verriegelte das Fenster und schloss die Tür ab. Über die Hände der jungen Frau stülpte sie Dosen, die sie mit Tüchern umwickelte, die Handgelenke fesselte sie mit einem Riemen. Später benutzte sie eine Kette. Über Tage hinweg bekam Verena W. nichts zu essen und wurde nur aus dem Zimmer gelassen, wenn sie im Haushalt arbeiten musste. Bei ihrer Befreiung war sie stark unterernährt.

Die eigene Mutter verleugnete sie

Verena W. wuchs als neuntes von sechzehn Kindern in der Ostschweiz auf. Einen grossen Teil der Kindheit verbrachte sie in Erziehungsheimen und Anstalten. Die Behörden hatten sie als «mittelgradig geistesschwach» eingestuft – eine damals oft verwendete Formulierung, um Kinder aus armen Familien in Heimen zu versorgen. Die Demütigungen fanden auch innerhalb der Familie statt. «Ich war das schwarze Schaf», sagt Verena W. Ihre Mutter habe sie gegenüber Nachbarn jeweils als ihr Dienstmädchen vorgestellt. Mitunter musste sie sogar ihren Geschwistern erklären, dass sie kein Dienstmädchen, sondern die leibliche Schwester sei.

Von der Pfarrersfrau hörte sie nie eine Entschuldigung oder ein Wort des Bedauerns. Nach der Verurteilung der Peinigerin griff eine Illustrierte Verena W.s Geschichte auf, sie erhielt sogar eine Entschädigung. Doch vom Geld sah sie nur einen Bruchteil, den Rest sackte ihre Mutter ein. Vor Jahren schrieb Verena W. ihre Geschichte auf, am Schluss notierte sie: «Vergessen kann ich das nie…»

Das Leben meinte es aber auch später nicht gut mit ihr. Ihre vier Kinder waren noch klein, als ihr Mann bei einem Verkehrsunfall starb. Vom zweiten Ehemann trennte sie sich. Sie rappelte sich immer wieder auf.

In schwierigen Stunden hilft ihr die Musik. Verena W. spielt täglich auf ihrer kleinen Orgel. Manchmal nimmt sie die Handharmonika unter dem Tisch hervor. Oder sie rezitiert Theaterstücke, die sie in der Jugend aufgeführt hat – und bis heute perfekt auswendig kann. In solchen Momenten zieht ein verschmitztes Lächeln über ihr Gesicht. Es ist das Gesicht eines Opfers, das mit der eigenen Geschichte leben lernen musste.

* Name der Redaktion bekannt

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Otto Hostettler, Redaktor
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