Garstiges Wetter, Viehgatter, ein platter Reifen: alles kein Problem für den geübten Mountainbiker. Wovor er sich aber fürchtet, das sind «Rotsockenkonfrontationen» – Begegnungen mit Wanderern, die partout den Weg nicht teilen wollen.

Biker Thomas Gassler hatte irgendwann genug. Genug von den Ellbogen im Gesicht, die ihn beim Überholen aus dem Gleichgewicht brachten. Genug von mutwillig auf den Pfad gelegten Ästen, die ihn an der Weiterfahrt hinderten. Und genug von Steinen, die man ihm hinterherwarf.

Im Winter setzte sich der 58-Jährige in die Werkstatt und erfand ein Glöckchen für den Velolenker, das sein Herannahen von weitem ankündigt. Nachdem das Szenemagazin «Ride» über die «Swiss Trail Bell» berichtet hatte (Titel: «So wird der Weg frei»), entwickelte sich das clevere Zubehörteil zum Verkaufsschlager.

«Ganz verhindern lassen sich Konflikte damit nicht», sagt Thomas Gassler. Seine «Trail Bell» leiste aber einen Beitrag zum friedlicheren Nebeneinander von Bikern und Wanderern. «Das sanfte Bimmeln wirkt weniger aggressiv als eine schrille Veloglocke.»

Dieses Nebeneinander wird künftig noch härter auf die Probe gestellt. Denn das Mountainbiking erlebt gerade einen zweiten Frühling. Verantwortlich für den Boom sind E-Mountainbikes, geländetaugliche Zweiräder mit elektrischer Tretunterstützung.

Fast jeder kommt den Berg rauf

Wer im Juli die weltweit grösste Velomesse Eurobike am Bodensee besuchte, sah eine elektrisierte Branche. Kein Hersteller, der sein strombetriebenes Paradebike nicht im besten Licht präsentierte. Aus gutem Grund: Im letzten Jahr kauften Schweizerinnen und Schweizer 30'000 E-Mountainbikes, eine Zuwachsrate von knapp 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Schnitt gaben die Käufer 3500 Franken aus – Rekord.

Noch steiler nach oben zeigt die Kurve im Mietgeschäft. Beim führenden Anbieter Rent a Bike haben sich die Zahlen für die Vermietung von motorisierten Mountainbikes zwischen 2016 und 2017 nahezu verdoppelt.

Das hat Folgen. Wer mit einem Akku unterwegs ist, kommt weiter, höher hinauf und schneller ans Ziel E-Bike Der Wunsch nach mehr Tempo . Heute schafft man 1000 Höhenmeter mühelos in der Mittagspause. Geniesst auf dem Gipfel – fast unverschwitzt – Aussicht und Bergluft und gleitet anschliessend mit Älplermagronen im Bauch locker ins Tal. Die Elektrifizierung führt zu einer Demokratisierung des Velos. Man muss kein durchtrainierter Jungspund mehr sein, um Berge auf dem Mountainbike zu erobern.

Immer mehr Schweizer kaufen E-Mountainbikes

Verkaufte E-Mountainbikes

Die Anzahl der schweizweit verkauften E-Mountainbikes hat sich in vier Jahren mehr als verdoppelt. Im Jahr 2017 waren es knapp 30'000 von 300'000 verkauften Velos.

Quelle: Velosuisse – Infografik: Beobachter/SEE
Unverbindliche Empfehlungen

Wo sich diverse Anspruchsgruppen auf beschränktem Platz tummeln, entsteht Reibung. Manchmal fliegen sogar die Fäuste. Was die neue Situation zusätzlich verkompliziert, sind die Vehikel selbst. Ein E-Mountainbike eignet sich kaum für rasante Abfahrten auf Downhill-Strecken Alps Epic Trail in Davos Epischer Nervenkitzel auf dem Bike . In Bikeparks wie in Lenzerheide, wo Sprünge und Steilwandkurven für den ultimativen Kick sorgen, ist ein 20 Kilo schweres, sperriges E-Mountainbike nicht angesagt. Das natürliche Habitat des motorisierten Drahtesels ist der Wanderweg.

Als sich vor drei Jahren Meldungen über eskalierende Konflikte häuften, einigten sich die Wanderer und Velofahrer auf ein Positionspapier. In diesem Dokument, das laut Michael Roschi, dem Geschäftsleiter der Schweizer Wanderwege, bis heute Gültigkeit hat, vereinbarten die Parteien ein «rücksichtsvolles Mit- und Nebeneinander».

Wegen der unterschiedlichen Nutzung der Infrastruktur sei eine sinnvolle Entflechtung der Wegnetze anzustreben. Das Papier endet mit Empfehlungen: Wanderer sollen Velofahrer passieren lassen, ohne deren Fahrt unnötigerweise zu behindern. Biker sollen das Tempo reduzieren, wenn sie sich Wanderern nähern. So weit, so unverbindlich.

Im Gelände ist dieser Frieden zuweilen brüchig. In Davos etwa raunt ein genervter Wanderer, nachdem er zum wiederholten Mal heranbrausenden Bikern Unfälle Biker bringen Hausärzte ans Limit hat ausweichen müssen: «Nächsten Sommer gehe ich wieder ins Toggenburg.» Und in der «Berner Zeitung» schreibt ein Leser: «Wenigstens auf dem Wanderweg möchte ich nicht auf den Verkehr achten müssen. Das friedliche Miteinander gibt es nur in den Hirnen der Touristiker, die gern den Fünfer und das Weggli möchten.»

42 Prozent der Mountainbiker tragen Ellbogenschoner: Wie schützen sich Biker vor Verletzungen? Und an welchen Körperpartien verletzen sie sich am häufigsten?

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Bei der Fachstelle Langsamverkehr des Tiefbauamts Graubünden führt man seit 2011 Buch über Reklamationen. Im ersten Jahr waren es insgesamt 46, im letzten schon deren 166.

An die Leine legen wollen die Bündner Tourismusverantwortlichen die Biker deswegen nicht. Im Gegenteil: Obwohl immer noch zehnmal so viel Menschen in ihrer Freizeit wandern, umgarnt man die Biker, wo es nur geht. Wer sich ein 6000 Franken teures Mountainbike leisten kann, gibt auch sonst mehr aus, so die Annahme der Hoteliers. Sie sehen im Mountainbiker eine Antwort auf die ungelöste Frage, wie im Sommer die Hotelbetten gefüllt Wintertourismus So wollen die Skigebiete überleben werden können.

Graubünden investiert mehrere Millionen Franken

Der Kanton Graubünden nahm früh eine Vorreiterrolle ein. Zwischen 2010 und 2015 investierte er 4,7 Millionen Franken in Infrastruktur und Marketing. Im letzten Jahr lancierte die Regierung das 347'000 Franken teure Förderprojekt «E-Mountainbike Graubünden». Diesen Sommer kommen Gäste von Chur bis Poschiavo in den Genuss kostenloser E-Bike-Grundkurse.

Die Strategie der Bündner Regierung geht bislang auf. Der Kanton gilt heute als Bike-Mekka. Davos zum Beispiel wirbt mit einem 700 Kilometer langen Streckennetz – will aber noch mehr.
 

«Hier wurde alles falsch gemacht, was man falsch machen kann.»

Jacqueline von Arx, Geschäftsleiterin Pro Natura Graubünden


Vor ein paar Wochen bewilligte der Kanton den Bau eines neuen Trails auf dem Strelapass. Für Jacqueline von Arx, die Geschäftsleiterin von Pro Natura Graubünden, ist das ein Affront. Sie sagt: «Hier wurde alles falsch gemacht, was man falsch machen kann.»

Auf der Schatzalp führt der geplante Bikeweg mitten durch eine seit 2010 geschützte Trockenwiese von nationaler Bedeutung. Das Gebiet gilt als einer der letzten Rückzugsorte für Steinböcke und Gämsen. Flora und Fauna leiden unter einer Ausweitung der Bikezone noch mehr als der gemeine Wandervogel.

Die Wiese oberhalb des Hotels Schatzalp gleicht einem von Peitschenhieben vernarbten Rücken. Wo die Erosion bestehende Pfade ausgehöhlt hat, schlängeln sich links und rechts davon frische Bikespuren ins Tal. Als Pro Natura vor einigen Wochen zur Generalversammlung auf die Schatzalp lud, zimmerten die Davoser Trail-Initianten in einer Hauruckübung ein paar Zäune Tierschutz Todesfalle Zaun in den Hang, die die Biker kanalisieren sollten. Beim Eintreffen der Naturschützer roch es immer noch nach frischem Sägemehl.

Bikerstrecke auf der Schatzalp

Die Biker kanalisieren: ein eilig in den Hang gezimmerter Bretterverschlag auf der Schatzalp.

Quelle: Peter Aeschlimann

Jacqueline von Arx ärgert sich über die Alibilösung: «Die Leute wollen keine Kunstbauten in der Landschaft!» Sie steigt den Hang hinauf, entdeckt ein Läusekraut und daneben ein plattgedrücktes Sonnenröschen. Auf dieser Höhe, sagt sie, wo der Boden kalt und der Humus nur spärlich verteilt sei, wachse nach einer Verletzung der Pflanzendecke lange Zeit nichts mehr. «Wir wollen nicht den Biketourismus verhindern, das wäre widersinnig», sagt sie. «Aber wir fordern eine bessere Planung.»

Wenn man eine neue Strecke baue, müsse sie umweltverträglich konzipiert werden und mit dem Rückbau einer bestehenden Route einhergehen. «Auf der Schatzalp hat man die Leute getäuscht.» So hätten die Planer einfach einen seit Jahrzehnten existierenden Alpweg von der Landkarte gestrichen – obwohl dieser weiterbestehe. Ob Pro Natura den Entscheid der Regierung weiterziehen wird, entscheiden die Hausjuristen nach den Sommerferien.
 

«Ich lasse mich nicht mundtot machen. Falls nötig, ziehe ich bis vors Bundesgericht.»

Pius App, Hotelier Schatzalp


Auf einen langen Kampf eingestellt hat sich Hotelier Pius App, der Besitzer der Schatzalp. Seine Einsprache gegen den neuen Trail wurde ebenso abgelehnt wie diejenige von Pro Natura, dem WWF und der Stiftung Landschaftsschutz. Zusätzlich brummte man ihm eine Kostenbeteiligung von 2000 Franken auf. «Ich lasse mich nicht mundtot machen», sagt der 70-Jährige, der mit der Entwicklung einer Bankensoftware zu Reichtum gekommen ist. «Nötigenfalls ziehe ich bis vors Bundesgericht.»

Pius App geht es nicht nur um den Umweltschutz, sondern auch ums Geschäft. Im letzten Winter hat eine Jahrhundertlawine eine tiefe Furche durch seinen alpinen botanischen Garten gezogen und viele Pflanzen und Bäume zerstört, jetzt droht menschengemachtes Ungemach Insekten Das stille Sterben .

Falls der Trail mit seinen zahlreichen Steilwandkurven gebaut wird, hätte das weitreichende Konsequenzen für sein 2009 zu neuem Leben erwecktes Skigebiet. «Wenn das Gelände nicht mehr so flach wie heute ist, muss ich im Winter künstlich beschneien», sagt App. Das komme nicht in Frage. Auf der Schatzalp solle ein sanfter, langsamer Tourismus stattfinden. «Ich wäre wohl gezwungen, zu schliessen.»

Die Kantone entscheiden, ob Biker auf Wanderwege dürfen

Das Wanderwegnetz in der Schweiz misst 65'000 Kilometer. Es existiert kein glasklares Gesetz, das besagt, wer diese gelb signalisierten Wege benutzen darf. Da E-Mountainbikes mit einer Tretunterstützung bis 25 km/h als Velos durchgehen , darf man mit ihnen Wanderwege befahren – sofern diese dafür geeignet sind.

Es liegt in der Kompetenz der Kantone, Verbotstafeln aufzustellen oder Empfehlungen abzugeben. Und das tun diese ganz unterschiedlich: Im Bündnerland oder im Wallis dürfen alle fast überall, in Appenzell Innerrhoden sind Wanderwege für Biker tabu. «Wenn eine Gruppe Velofahrer anruft, schicken wir sie lieber nach Lenzerheide», sagt der Innerrhoder Tourismusdirektor Guido Buob.

Um etwas mehr Klarheit in die Angelegenheit zu bringen, erarbeitet das Bundesamt für Strassen derzeit zusammen mit dem Dachverband Schweizer Wanderwege und der Stiftung SchweizMobil ein Merkblatt mit Empfehlungen für die Kantone. Es soll aufzeigen, wo eine Koexistenz möglich ist und wann eine Entflechtung nötig wird.

9190 Kilometer lang ...

Schweizer Routennetz für Mountainbiker

... ist das offizielle Schweizer Routennetz für Mountainbiker – es ist fast dreimal so lang wie vor zehn Jahren.

Quelle: SchweizMobil – Infografik: Beobachter/SEE

Eine der ersten Adressen, wenn es um Entflechtungen geht, ist die Bündner Firma Allegra. Sie entwickelt seit über einem Jahrzehnt Gesamtlösungen für Orte, die sich als Mountainbike-Destination positionieren wollen. Das Angebot reicht von der Ermittlung der Zielgruppen bis zum Bau der Trails und zur Schulung des Hotelpersonals.

Ein Projekt, das sogar von Pro-Natura-Chefin Jacqueline von Arx gelobt wird, befindet sich in Pontresina zwischen der RhB-Station Morteratsch und dem Berninapass. Hier hat Allegra im letzten Jahr diverse Bike-Trails gebaut und gleichzeitig nicht mehr benötigte Wegstücke renaturiert.

«Das war eigentliche Gärtnerarbeit», sagt Allegra-Gründer Darco Cazin. Nachdem die Bagger die Grobarbeit erledigt hatten, setzte sein Team jeden Stein und jeden Strauch von Hand ins Gelände. Damit wurden drei Ziele verfolgt: Die Biker sollten auf die für sie vorgesehenen Wege gelenkt werden. Wanderer sollten sich auf den gemeinsam genutzten Abschnitten sicher fühlen. Und im Gelände sollten die baulichen Massnahmen möglichst wenig sichtbar sein.
 

«Zu 99 Prozent braucht es keine Neubauten.»

Darco Cazin, Allegra-Gründer


Gemäss Darco Cazin braucht es getrennte Wege, wo die Geschwindigkeit der Biker besonders hoch ist. «Da ist das Konfliktpotenzial am grössten.» Er ist überzeugt, dass sich überall in der Schweiz Lösungen auf dem bestehenden Wegnetz realisieren liessen. «Zu 99 Prozent braucht es keine Neubauten.» Man müsse die Trails so anlegen, dass weder Bremsmanöver der Biker noch heftige Regenfälle die Unterlage zerstören können. Das sei zwar oft teurer, rechne sich aber auf Dauer, weil der Unterhalt wesentlich günstiger komme.

«Das E-Mountainbike gibt der Sportart zusätzlich Push», sagt Cazin. Vor den Sportgeschäften seiner Wohngemeinde Pontresina reiht sich E-Bike an E-Bike. Bei Fähndrich Sport machen E-Mountainbikes inzwischen 80 Prozent der Velomieten aus. Dass die Nachfrage so gross wie nie ist, musste Cazins Firma kürzlich erfahren. Für den ersten Preis in einem Wettbewerb bestellte man im letzten November ein E-Mountainbike. Doch erst vor zwei Wochen konnte das Velo der Gewinnerin übergeben werden. «Die Händler kommen schier nicht nach mit Liefern.»

Rent a Bike: Anzahl ausgeliehene E-Mountainbikes pro Jahr

Rent A Bike

Der führende Veloverleiher Rent a Bike verzeichnet einen enormen Zuwachs an ausgeliehenen E-Mountainbikes.

Quelle: Rent a Bike – Infografik: Beobachter/SEE

Als der 40-Jährige Vater wurde, schaffte er sich einen Veloanhänger für die Kinder an. Jetzt fährt er nur noch E-Mountainbike. Sein klassisches Bike hat er im letzten Jahr verkauft. Für die paar wenigen Cracks aus der Szene, die den Trend kritisieren, hat er wenig Verständnis: «Diese Leute beklagen sich, dass heute jeder biken könne. Dabei ist es doch das, was wir immer wollten!»

Cazin bezeichnet sich selbst nicht als Biker, sondern als Bergler. Er ist im Val Müstair aufgewachsen, einem der ärmsten Täler der Schweiz. Nach dem Studium wollte er seiner Heimat etwas zurückgeben. «Wir haben nur die Berge», sagt er. Früher habe man von der Landwirtschaft gelebt, heute lebe man vom Tourismus. «Das ist die Geschichte der Alpen Alpen Die neuen Wilden

Cazin sieht den Siegeszug der E-Mountainbikes als zeitgeistiges Phänomen. «Wir sind Optimierer geworden, wollen möglichst viel in kurzer Zeit erledigen können.» Mit dem E-Mountainbike komme man in der Mittagspause bis über die Baumgrenze. Mit einem normalen Bike müsse man dafür Stunden einplanen. «Es geht um eine Verdichtung der Erlebnisse», sagt Darco Cazin. Diese gesellschaftliche Entwicklung finde statt, unabhängig davon, was man in den Bergregionen davon halte. «Wir können entweder alles geschehen lassen – oder mit kluger Planung für Wanderer und Biker attraktiv bleiben.» 

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Peter Aeschlimann, Redaktor
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