Die Behörden in Zug sprechen von einem «Riesenaufruhr». Und ein Mitarbeiter des kantonalen Tiefbauamts raunzt ins Telefon: «Wir sagen nichts!»

Für den «Riesenaufruhr» verantwortlich sind Eltern wie Rahel Iten, die in der Hünenberger Matte für einen sicheren Schulweg von 20 Kindern kämpfen. Iten sagt: «Wir sind wie das gallische Dorf und rebellieren. Das gefällt den Behörden nicht.» Die 37-Jährige hat die heikle Stelle der Aktion «Achtung Schulweg!» gemeldet. Der Beobachter und die Rechercheplattform Correctiv Crowd Newsroom wollten wissen, wo Schulwege gefährlich sind und warum die Gefahrenstellen nicht entschärft werden. 

Hintergrund des Zwists in Hünenberg ist die Sanierung der Sinserstrasse. Die Kantonsstrasse wurde dieses Jahr neu geteert, der Zebrastreifen bei der Verzweigung Matten entfernt Fischingen TG Ein Dorf verliert seinen Fussgängerstreifen . An einer Stelle, wo der offizielle Schulweg durchgeht – auch der von Rahel Itens fünf- und sechsjährigen Kindern. «Ohne Zebrastreifen ist es selbst für Erwachsene schwierig, die Strasse zu überqueren. Viele Autos halten nicht, wenn wir am Strassenrand stehen.» Täglich fahren hier über 10'000 Autos durch. Es gilt Tempo 60.

Die BfU ist gegen Fussgängerstreifen

Vor der Sanierung stellte eine Sicherheitsinspektorin des Kantons fest, dass hier weniger Fussgänger die Strasse überqueren, als die Norm für Zebrastreifen verlangt. 

Die Gemeinde Hünenberg reklamierte gegen den Abbau 6 Fragen und Antworten Wie man sich wehren kann, wenn der Schulweg zu lang oder gefährlich ist , aber erfolglos. Rahel Iten und 34 weitere Anwohnerinnen und Anwohner forderten eine Neubeurteilung. Wie es in solchen Streitfällen oft vorkommt, beauftragte der Kanton Zug die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU), die Situation zu analysieren. Die BfU gilt als unabhängig und ist eine Instanz in diesem Bereich. Im Leitbild der Organisation steht, dass sie schwere und tödliche Verkehrsunfälle verhindern will. Die BfU kam zum Schluss: Ein Fussgängerstreifen in der Hünenberger Matte ist fehl am Platz. Wieso, sagt Patrick Eberling, Leiter der Abteilung Verkehrstechnik.


Beobachter: Warum spricht sich die BfU gegen diesen Fussgängerstreifen aus?
Patrick Eberling: Die Leute glauben immer, ein Fussgängerstreifen gebe Sicherheit. Nein, er gibt nur Vortritt. Auch wenn hier die Wartezeiten vorher kürzer waren und noch nichts Schlimmeres passiert ist: Die Sicherheit war nicht gewährleistet. Fahrzeuglenker erwarten ausserorts und bei hohem Tempo nicht, dass plötzlich der Langsamverkehr Vortritt hat. Dementsprechend gering ist die Wahrscheinlichkeit, dass man im Konfliktfall am Zebrastreifen hält. Zudem gibt es hier nur sehr wenige querende Fussgänger. Gemäss Studien ist ein Zebrastreifen bei geringer Frequenz gefährlich.
 

Warum?
Weil die Autofahrer nicht mit querenden Personen rechnen. 

«Ein Kind, das eine Viertelstunde lang nicht über die Strasse kommt: Das ist eine Ausrede, die die Eltern der Gemeinde einflüstern.»

Patrick Eberling, Leiter Verkehrstechnik bei der BfU

Anwohner sagen, dass es schwierig geworden sei, nun über die Strasse zu kommen.
Das kann nicht sein. Pro Richtung verkehren hier 5000 Autos am Tag, macht in der Spitzenstunde zwischen 17 und 18 Uhr acht pro Minute. Da schafft man es zwischen zwei Autos zur Schutzinsel in der Mitte. 
 

Ein Kind kam weinend eine Viertelstunde zu spät zur Schule, weil kein Auto anhielt.
Das kann nicht sein, dass ein Kind eine Viertelstunde lang nicht über die Strasse kommt. Das ist eine Ausrede, die die Eltern der Gemeinde in die Ohren flüstern. Zudem: Ein Kind kann hier ganz klar nicht allein über die Strasse, ob mit oder ohne Zebrastreifen. Die Markierung würde das Kind vielleicht gar dazu verleiten, blindlings loszulaufen.
 

Ein Streifen sei auch wegen des hohen Tempos der Autos nicht möglich, steht in Ihrem Bericht.
Wenn es die Tempo-60-Tafel nicht bereits gäbe, hätten wir sie ohne weitere Massnahmen nicht empfohlen. Sie gibt eine falsche Sicherheit vor: Man meint, die Autos fahren 60, in Wahrheit fahren 85 Prozent bis zu Tempo 73, 15 Prozent noch schneller. Die können nicht rechtzeitig halten. 
 

Könnte man nicht eine Ampel aufstellen?
Haben Sie als Autofahrerin schon mal gesehen, dass ausserorts auf freier Strecke – zack – ein Rotlicht kommt? Das geht genau nicht. Was bringt es, wenn der Fussgänger Grün hat, aber überfahren wird? Dann verpflichtet man ihn lieber, selbst achtsam zu sein.
 

Sie argumentieren aus Sicht der Autofahrer. Müsste die BfU nicht konsequent die Sicherheit von Fussgängern fördern?
Das tun wir doch. Zur Sicherheit der Fussgänger sagen wir: Macht keinen Zebrastreifen! Innerorts fordern wir seit Jahren auf nicht verkehrsorientierten Strassen gemeindeweit Tempo 30. Auch auf übergeordneten Strassen mit beidseitiger Bebauung empfehlen wir Tempo 30. Dort, wo der Schwächere erwartet wird, muss man den motorisierten Verkehr unbedingt abbremsen. Notfalls mit einem Radar. Aber da, wo man ihn nicht erwartet, bringen Massnahmen wie eine Signalisationstafel nichts.
 

Sie analysieren zum Schutz der Fussgänger eisern aus der Perspektive der Autofahrer?
Man muss auch den Menschen dahinter sehen. Er führt die Regeln aus und muss den markierten Vortritt gewähren. Auf Überlandstrecken driftet doch jeder in Gedanken mal ab. Da kann ich als Verkehrsplaner nicht plötzlich die Vortrittsregelung umdrehen und erwarten, dass der hält. Wir wollen ja auch die Fahrer vor einem Unfall schützen.
 

Ihr Bericht ist quasi ein Gütesiegel, dass Normen eingehalten werden. Und der Kanton nichts zur Sicherheit der Kinder tun muss.
Wir sagen immer: Wir sind die Anwälte der Kleinsten und Verletzlichsten. Wenn wir in Hünenberg keinen Zebrastreifen empfehlen, dann sicher nicht, um den Kanton für einen guten Schulweg zu loben. Wenn die Kinder den Weg nicht selbständig bewältigen können, war die Schulhausplanung falsch. Die Verantwortlichen müssen ihn mit einem Schulbus oder Lotsendienst sicher machen.

Kanton will nichts mehr verändern

Was in Hünenberg passiert, ist unklar. Bauliche Massnahmen oder eine Temporeduktion seien ausgeschlossen, sagt Stephan Schleiss, stellvertretender Sicherheitsdirektor. Man wolle der Gemeinde nun sachlich Lösungswege aufzeigen. Schulwege seien ihre Sache. «Wir überlassen es ihr, ob sie einen Pedibus, eine Schulwegbegleitung Gefährliche oder lange Schulwege Der lange Kampf um sichere Schulwege oder Schulbusse zur Verfügung stellen will.» 

Der zuständige Gemeinderat Hubert Schuler sagt: «Der BfU-Bericht und die anschliessende Kommunikation des Kantons fokussieren ganz klar auf die Sicht der Autofahrer. Das wollen wir nicht einfach akzeptieren. Man kann uns nicht den Fussgängerstreifen wegnehmen und dann sagen: Kümmert euch selbst um die Situation!» Schuler will deshalb mit dem Kanton über eine Lösung mit einer Ampel diskutieren.

Rahel Iten will nur eines: «Wir möchten, dass unsere Kinder den Schulweg selbständig bewältigen können. Sie können nichts dafür, wenn die Erwachsenen den Verkehr nicht im Griff haben.»

Logo Achtung Schulweg
Quelle: Beobachter | Andrea Klaiber

Der Beobachter und Correctiv Crowd Newsroom haben bei der Recherche «Achtung Schulweg» gemeinsam dokumentiert, wo es gefährliche Stellen auf einem Schulweg gibt. Schweizweit haben 585 Personen zwischen dem 18. August und dem 25. September an der Datenerhebung teilgenommen, diese ist abgeschlossen. Der Beobachter hat Strassennamen, Tempolimit und gemeldete Unfälle überprüft. Eine Begehung vor Ort fand nicht statt.

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Austausch zum Thema Schulweg im Beobachter-Forum

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In diesem Forum diskutieren Eltern, Anwohnerinnen und weitere Betroffene über gefährliche Schulwege und was man dagegen unternehmen kann. Die Beobachter-Redaktorinnen Corinne Strebel und Daniela Bleiker beantworten hier allgemeine Fragen zum Thema. Für spezifische Probleme und Fragen kontaktieren Sie bitte die Hotline des Beobachter-Beratungszentrums unter der Nummer 058 510 73 76.

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