Es ist, als hätte die Schweiz einen Sprung in der Platte: Lehrermangel, Lehrermangel, Lehrermangel – so tönt es jedes Jahr aufs Neue. Im Frühling bricht Panik aus, im Sommer müssen Notlösungen her. Im Herbst ist kurz Ruhe, im Winter kehren die Sorgen zurück. Besserung ist nicht in Sicht.

Bis 2031 müssen allein auf der Primarstufe 43’000 bis 47’000 Lehrpersonen rekrutiert werden, so das Bundesamt für Statistik. Ausgebildet werden bis dahin aber nur rund 34’000 Lehrkräfte, also 10’000 zu wenig. Zwar springen Quereinsteiger, ausländische Lehrkräfte und Studierende ein, aber reichen wird das nicht. Das alles ist seit Jahren bekannt, trotzdem tut sich wenig.

Kritik musste jüngst vor allem die Zürcher Bildungsdirektorin einstecken. Silvia Steiner, die auch Präsidentin der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) und damit oberste Bildungsverantwortliche ist, verwies mehrfach auf eine Taskforce Lehrermangel. Diese tagte aber drei Jahre nicht, wie der Beobachter aufdeckte.

530 Lehrkräfte ohne Diplom im Einsatz

Trotzdem präsentierte Zürich im Frühling eine pragmatische Lösung: Personen ohne anerkanntes Lehrdiplom, kurz «Poldis», sollten für ein Jahr unterrichten dürfen. Das erlaubt eine Ausnahmeregel im Lehrpersonalgesetz. Bisher kam die Regel nur auf einzelnen Stufen und in bestimmten Funktionen zum Einsatz.

Andere Kantone sind weniger streng. «Da sind bereits seit Jahren Personen ohne adäquate pädagogische Ausbildung im Einsatz», sagt Myriam Ziegler von der Zürcher Bildungsdirektion.

«Man bekommt einen Ordner pro Fach, dann heisst es: ‹An die Arbeit!›»

Leo Russo, Kindheitspädagoge

Nach den Sommerferien traten 530 Personen ohne Lehrdiplom den Dienst an. Einer von ihnen ist Leo Russo (Name geändert). Der 35-jährige Kindheitspädagoge arbeitet oft mit Schulen zusammen und kennt den pädagogischen Betrieb.

Trotzdem sei der neue Job ein Sprung ins kalte Wasser gewesen. «Man bekommt einen Ordner pro Fach, dann heisst es: ‹An die Arbeit!› Ich habe zum Glück zwei super Schulleitungen, eine motivierte Klasse und unkomplizierte Eltern.» Diese wissen allerdings nicht, dass Russo ein Poldi ist, deshalb möchte er im Artikel anonym bleiben.

Nach vier intensiven Monaten im Klassenzimmer steht für Leo Russo nun fest: Er möchte Lehrer bleiben. «Doch leider sieht es schlecht für mich aus.» Mitte November präsentierte die Zürcher Bildungsdirektion neue Massnahmen – eine Verlängerung der Bewilligung für Poldis gehört nicht dazu.

Ideen sind da – aber reicht das aus?

Stattdessen wird ihnen nur der Zugang zur Pädagogischen Hochschule Zürich erleichtert. Bald sollen sie auch ohne Matura oder Hochschulabschluss studieren können. Eine abgeschlossene Ausbildung und drei Jahre Arbeitserfahrung reichen, man muss mindestens 30 Jahre alt sein und 40 Prozent neben dem Studium arbeiten.

Wer diese Bedingungen nicht erfüllt – zum Beispiel frisch aus dem Gymi kommt –, kann eine Aufnahmeprüfung machen. Ähnliche Sur-dossier-Modelle führen auch andere pädagogische Hochschulen ein.

Die Hürden bleiben hoch: Die Ausbildung dauert vier Jahre, ein Semester kostet rund 700 Franken. Der Kanton Zürich erwartet, dass sich etwa die Hälfte der 530 Lehrpersonen ohne Diplom für ein Studium qualifizieren könnte. Wie viele das tatsächlich tun werden, ist unklar. «Wir haben schon früh mit mittel- bis langfristigen Massnahmen auf den Lehrermangel reagiert», betont Myriam Ziegler.

Dazu gehören neben dem erleichterten Zugang auch Unterstützungsangebote für Wiedereinsteiger, eine Ausbildung für Quereinsteiger und mehr Studienplätze. Die Anstellung von Poldis sei eine kurzfristige Massnahme gewesen – die Qualität der Ausbildung müsse sichergestellt werden, heisst es jetzt.

«Falls es im Frühling nicht besser ist, muss vielleicht doch eine andere Lösung her.»

Leo Russo

Leo Russo versteht das zwar, begreift aber nicht, weshalb man motivierten Lehrkräften ohne Diplom nicht stärker entgegenkommt. «Wir alle haben eine Ausbildung und verfügen im Sommer über ein Jahr Berufserfahrung. Trotzdem wird uns kein einziges Fach erlassen – nicht einmal zum Quereinsteiger-Studiengang sind wir zugelassen.» Der Anreiz für ein vierjähriges Studium sei tief.

Lehrermangel, Lehrermangel, Lehrermangel – die kaputte Platte wird noch eine Weile weiterlaufen. Russo hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. «Falls es im Frühling nicht besser ist, muss vielleicht doch eine andere Lösung her.» Spätestens dann sind Poldis wieder gut genug.

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Jasmine Helbling, Redaktorin
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