Um acht Uhr morgens stand bei Benjamin Hermann* die Polizei im Haus. «Die Beamten liefen durch die Gänge und schrien meinen Namen, bis sie mich gefunden hatten», erzählt der 23-Jährige, der in einer WG lebt. «Ich fühlte mich wie ein Schwerverbrecher.» 

Die Polizei suchte ihn, weil das Contact Tracing des Kanton Zürich ihn nicht erreichen konnte. Sie teilte ihm in den frühen Morgenstunden mit, er müsse sich umgehend dort melden. «Sie händigten mir schliesslich einen Zettel aus, auf dem eine Nummer stand, die ich anrufen sollte.» Es war die Telefonnummer des Zürcher Kantonsarztes. Ausgerechnet jene Nummer, die Benjamin Hermann vor Tagen bereits angerufen hatte. Mittlerweile war es eine Woche her, seit er positiv auf das Coronavirus getestet worden war. 

Er selbst hatte sich womöglich an einem Samstag in einem Zürcher Nachtclub angesteckt. Am Dienstag begannen die ersten Symptome: Kopfschmerzen, Schüttelfrost, Fieber. Am Mittwoch machte er einen Corona-Test in der Hirslanden Klinik in Zürich. Am Donnerstag erhielt er das positive Testresultat vom Zentrallabor – womit das Verfolgungs-Chaos begann. 

«Mir wurde angekündigt, dass ich vom Contact Tracing angerufen werde. Doch es kam nichts.» Benjamin Hermann wartete auf einen Code, den er in der Swiss-Covid-App SwissCovid-App Das Wichtigste zur Corona-Tracing-App hätte eingeben sollen, damit jene Personen in seinem Umfeld, die die App ebenfalls installiert haben, von einer möglichen Infektion erfahren und sich in Quarantäne begeben. In der App ist eine Nummer angegeben, die man anrufen soll, wenn man zwei Stunden nach dem positiven Testresultat noch keinen Code erhalten hat. «Also rief ich dort an», sagt Benjamin Hermann. «Mehrmals. Doch ich bekam keine Auskunft – und keinen Code.» Also kontaktierte er das Zentrallabor, wo er darum geben wurde, sich beim Kantonsarzt zu melden. «Es war ein Hin und Her.» 

Nach zwei Tagen erhielt er den besagten Code vom Kantonsarzt. In der Zwischenzeit hatten sich zwei weitere Personen in seinem Umfeld auf das Virus testen lassen und hatten ihn ebenfalls als Kontaktperson angegeben – mit seiner Handynummer und E-Mail-Adresse. Auch der Nachtclub, in dem er zuvor feiern war, verfügte über seine Kontaktdaten und gab diese wohl an das Contact Tracing weiter. Trotzdem wurde Benjamin Hermann nie kontaktiert – ausser von der Polizei, eine lange Woche nach dem positiven Testresultat. «Das war schon seltsam. Ich bekam nie eine Rückmeldung von den Contact Tracern. Was läuft dort falsch?»

Zürich ist nicht alleine

Schweizweit sind die Contact Tracer am Anschlag. Bern warnte bereits Ende Juli, dass das Limit bald erreicht sei. Damals sprang die Kantonspolizei ein, um alle Telefone bedienen zu können. Anfang November gaben beide Basel bekannt, dass die Contact Tracer überfordert seien. Baselland beanspruchte Hilfe von einer externen Firma, Basel-Stadt gab das flächendeckende Contact Tracing auf. Der Kanton Appenzell Innerrhoden bat die Bevölkerung um Mithilfe, weil das dortige Team mit den rasant steigenden Fallzahlen nicht mehr nachkam. Und der Kanton Zürich, der das Tracing ebenfalls teilweise an eine externe Firma vergeben hat, appellierte weiter an Eigenverantwortung und Eigeninitiative der Bevölkerung. Am 5. November erst bewilligte der Zürcher Regierungsrat zusätzliche 3,25 Millionen Franken für den Ausbau des Contact Tracings. 

Benjamin Hermanns Eigeninitiative nützte in seinem Fall wenig. «Natürlich habe ich mein Umfeld über meine Erkrankung informiert. Nur kenne ich ja nicht jede Person, die beispielsweise am besagten Wochenende im selben Club Erneutes Warten auf Erwerbsersatz Die Party ist vorbei war.» Dafür ist die Covid-App gedacht – und mit ihr ein funktionierendes Contact Tracing verantwortlich für die Durchbrechung der Infektionskette. 

Kritik aus dem Innern

Genau an diesem Knotenpunkt scheitert es. «Es kann in dieser Form auch gar nicht funktionieren», sagt Lars Huber*. Er arbeitet seit einigen Monaten als Contact Tracer für den Kanton Zürich. «Wir sind nicht unbedingt zu wenig Leute», erzählt er. «Das waren wir vielleicht zu Beginn. Jetzt aber werden immer mehr rekrutiert. Das Problem ist: Niemand wird richtig eingearbeitet oder geschult.» Neuen Tracern würde ein mehrseitiges Papier in die Hand gedrückt, wo alles Notwendige drinstehen würde. Doch auch dieser Leitfaden sei lückenhaft. «Am Ende arbeitet jede Person so, wie sie es für richtig hält. Das ergibt Dutzende Lösungsansätze, was logischerweise zu einem Chaos führt.»

Es sei frustrierend dort zu arbeiten. «Man hatte über sechs Monate Zeit, das System zu optimieren. Denn vor steigenden Fallzahlen in den Wintermonaten wurde schon lange gewarnt.» Doch die Tracing-Prozesse seien heute alles andere als effizient. «Sie sind fehlerhaft und dagegen wird nichts unternommen.» Es sei schon öfters vorgekommen, dass ganze Listen von Personen nicht im System eingetragen – und die infizierten Personen deshalb gar nie vom Contact Tracing kontaktiert wurden.

In Zürich fordern die Contact Tracer die Infizierten auf, ihre Kontaktpersonen per E-Mail anzugeben. «Das macht halt jede Person anders, was für uns enormen Mehraufwand bedeutet», sagt Lars Huber. In Bern beispielsweise erhalten infizierte Personen einen Link für ein Onlineformular, in das engeren Kontakte in einer Liste eingetragen werden können und die Tracer so an ihre Daten gelangen. 

Lösungen werden gesucht

Viele Kantone handhaben das Prozedere also anders. Welches am effizientesten ist, bleibt unklar. «Uns sind nicht alle Organisationsformen bekannt», lässt die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren GDK verlauten. Klar ist jedoch, dass das Contact Tracing «derzeit fast flächendeckend Lücken und Verzögerungen aufweist». Das könne dazu führen, dass auch die Datenlieferung der Kantone an das Bundesamt für Gesundheit lückenhaft sei. 

«Die Kantone haben Anpassungen bei den Abläufen oder der Art und Weise, wie Kontaktpersonen benachrichtigt werden, vorgenommen», so die GDK. Ein Beispiel dafür ist der Kanton Aargau: Seit Ende Oktober wird das Contact Tracing vom Zivilschutz unterstützt. Die Kontaktaufnahme wird nun nach Merkmalen wie Alter und Institutionen priorisiert und infizierte Personen werden gebeten, enge Kontaktpersonen selbst zu kontaktieren.

«Zudem ist das BAG derzeit daran, eine Contact-Tracing-Datenbank aufzubauen, die von den kantonalen Datenbanken regelmässig und zeitnah mit Daten beliefert werden soll», so die GDK. Die technischen Schnittstellen zu den verschiedenen Systemen seien bereits überwiegend fertiggestellt. «Der Bund hat zusammen mit den Kantonsärztinnen und -ärzten und der Science Taskforce bereits definiert, welche Daten von den Kantonen geliefert werden müssen.» 

Optimierungsprozesse sind also in Gange. Sie sollen dafür sorgen, dass das Virus weiter eingedämmt und Infektionsketten unterbrochen werden können. Nur ist es nun bereits Spätherbst. Haben sich die Kantone zu langsam und zu schlecht auf steigende Fallzahlen vorbereitet? «Das Problem ist nicht der Anstieg der Fallzahlen per se, sondern die Geschwindigkeit», so die GDK. Die Kantone hätten ihre Kapazitäten im Sommer laufend ausgebaut. «Trotzdem liesse sich die hohe Zahl der Fälle, die es zuletzt pro Tag in einzelnen Kantonen abzuarbeiten galt, auch mit deutlich grösseren Teams nicht bewältigen.»

 

*Namen geändert

 

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