Zwei Handwerker retteten Verletzte aus einem Postauto
Kevin Kieffer und Redon Cacaj waren mit ihrem Lieferwagen unterwegs zu einer Baustelle. Sie waren spät dran am Nachmittag des 26. November – das sollte zum Glücksfall für viele Opfer eines schweren Verkehrsunfalls werden.
Veröffentlicht am 20. Juni 2025 - 11:50 Uhr
Kevin Kieffer (links) und Redon Cacaj kreuzten auf dem Weg zur Arbeit eine Unfallstelle – und handelten.
Es war gegen 13.45 Uhr, als sich zwei Handwerkern nach einer engen Kurve bei Koblenz AG ein Bild des Schreckens bot: Der herausgerissene Motor eines Autos lag mitten auf der Strasse, etwas weiter entfernt ein völlig zerstörter Personenwagen. Kevin Kieffer, 29, und Redon Cacaj, 19, hielten am Strassenrand an. «Es war sofort klar, dass hier etwas Schreckliches passiert war», sagt Kieffer.
Die beiden sicherten die Unfallstelle, stellten den Pannenblinker an. Dann näherten sie sich dem demolierten Auto. «Die Luft war beissend, es roch nach verbranntem Kunststoff», erinnert sich Redon Cacaj. Ein Geruch, der sich in das Gedächtnis der beiden einbrennen wird.
Postauto zur Seite gekippt
Mit Arbeitshandschuhen öffneten sie vorsichtig die Tür des Autos. Im Innern fanden sie einen schwer verletzten Mann, blutüberströmt, kaum ansprechbar, aber am Leben. Mit einem Teppichmesser, das die Sanitärinstallateure bei sich hatten, durchtrennten sie den Sicherheitsgurt. Sie beruhigten den Mann und alarmierten Polizei und Rettungskräfte. Eine Befreiung aus dem zerquetschten Fahrzeug war nicht möglich. Dazu brauchte es die Feuerwehr.
Prix Courage des Beobachters: Bühne frei für mutige Menschen
Während Redon Cacaj, Lehrling im Sanitärunternehmen, den Verletzten betreute, machte Kevin Kieffer eine weitere schlimme Entdeckung: Ein Postbus war beim Unfall von der Strasse abgekommen und lag, zur Seite gekippt, an einer steilen Böschung. Im Innern sassen wohl Passagiere fest.
Rettung am Abgrund
Den Handwerkern kam eine rettende Idee: die Spanngurte, die im Lieferwagen lagen. Zwei verbundene Gurte würden reichen, um sicher die steile Böschung hinunterzusteigen. Zwei weitere Personen, die inzwischen bei der Unfallstelle angehalten hatten, halfen ihnen. Unten angekommen, kletterte Kevin Kieffer auf das Postauto. Im quer liegenden Fahrgastraum waren mehrere Personen gefangen.
Kieffer schlug mit einem Fäustel, den er mitgenommen hatte, eine Rückscheibe ein, um ins Innere zu gelangen. Dort warteten mehrere Kinder und Erwachsene auf ihre Rettung.
Zuerst die Kinder, das war den beiden sofort klar! Redon Cacaj nahm ein erstes Kind in seine Arme, um es die Böschung hinaufzutragen. «Doch da war ein zweites, das schluchzte: ‹Nimm mich bitte auch mit!›», erinnert er sich. Also nahm er es ebenfalls auf seine Arme.
Hören Sie den Podcast mit den Kandidaten
«Die Kinder waren vielleicht drei und fünf Jahre alt. Doch sie fühlten sich so leicht an, als hätte ich nur zwei Jacken zu tragen», sagt Cacaj. Vielleicht sei es das Adrenalin gewesen, das ihm die Rettung erleichterte und so viel möglich machte. Die Kleinen waren erstaunlich ruhig, klammerten sich an ihren Retter. Erst oben, wieder in Sicherheit, begannen sie zu weinen.
Eigensicherung
Trotz der Hektik hatten die beiden Retter etwas Entscheidendes nicht vergessen: die Eigensicherung. «Im Militär und in Nothelferkursen hatten wir das ja gelernt. Und jetzt war zum Glück alles wieder da», sagt Kieffer. Darum zogen sie sich Handschuhe an, bevor sie die Scheiben einschlugen und die Verletzten befreiten. Und darum sicherten sie sich mit den Spanngurten, bevor sie die Böschung hinunter zum Postauto kletterten.
Mutige Lebensretter: Kevin Kieffer (links) und Redon Cacaj in ihrer Werkstatt in Würenlingen AG
Neun Fahrgäste befreiten die beiden Männer aus dem Bus. Doch da war noch der Buschauffeur. Der befand sich in einer misslichen Lage, ein Fuss war verdreht und eingeklemmt. Mit beiden Armen stützte er sich auf der Kasse neben dem Fahrersitz ab, um nicht hinunter auf die Einstiegsseite zu fallen.
Die Retter beruhigten den Chauffeur und versuchten, ihm zu helfen. Den eingeklemmten Fuss konnten sie durch das Ausziehen des Schuhs befreien. Der verletzte Fuss blutete, war wohl gebrochen.
«Dann geschah etwas Seltsames», erinnert sich Kieffer. Der Motor des Busses, der immer lief, begann zu stottern, was den Bus erzittern liess. Dadurch öffnete sich die eingebaute Kasse im Fahrerbereich, auf die sich der Chauffeur gestützt hatte. Das Geld fiel zu Boden, dann stoppte der Motor. Wäre der Fuss noch eingeklemmt gewesen, hätte sich der Busfahrer nicht mehr abstützen können und wäre wohl schlimmer verletzt worden. Plötzlich war alles ganz ruhig. Die Feuerwehr traf ein und konnte den Mann aus dem Bus befreien.
Einsatzkräfte übernehmen
Erst als alle in Sicherheit waren, realisierten die beiden Handwerker, was sie geleistet hatten. Die Anspannung fiel ab, und das Ausmass des Unfalls wurde fassbar. Feuerwehr, Polizei und die Besatzungen mehrerer Krankenwagen kümmerten sich mittlerweile um die Verletzten. Insgesamt waren bis zu 110 Menschen vor Ort. Noch etwas bleibt den Rettern in Erinnerung: «Noch nie hatten wir einen solchen Durst verspürt. Die Anstrengung hatte uns völlig ausgetrocknet», sagt Cacaj.
«Wir sind stolz, nicht versagt zu haben. Wir haben gemacht, was möglich war.»
Kevin Kieffer
Zehn Personen wurden leicht bis schwer verletzt, darunter vier Kinder und der Fahrer des Personenwagens. Ein kleines Mädchen musste per Helikopter ins Spital geflogen werden, es war ins Koma gefallen. Der Busfahrer kam mit einem gebrochenen Fuss davon.
Die Kantonspolizei Aargau vermutet, dass der 20-jährige Fahrer des Personenwagens zu schnell unterwegs war, auf die Gegenfahrbahn geriet und frontal in das Postauto knallte. Die Wucht des Aufpralls riss den Motorblock aus dem Auto, während das zwölf Tonnen schwere Postauto etwa fünf Meter die Böschung zum Koblenzer Naturschutzgebiet Giriz hinunterstürzte und dort seitlich liegen blieb.
Zivilcourage, die Leben rettet
Die beiden Handwerker erhielten kurze Zeit später einen Dankesbrief und ein Geschenk von der Postauto AG. Auch der Mann einer verletzten Passagierin bedankte sich bei ihnen. Doch die Retter sehen ihren Einsatz nicht als Heldentat, sondern als ihre menschliche Pflicht. «Aber ja, wir sind stolz darauf, in dieser Situation nicht versagt zu haben. Ich denke, wir haben gemacht, was möglich war», sagt Kevin Kieffer.
Die jungen Männer zeigten Zivilcourage, indem sie im entscheidenden Moment nicht wegschauten, Ängste überwanden und so womöglich Leben retteten. Eine Haltung, die leider nicht selbstverständlich ist.
Kevin Kieffer hat aus dem Erlebten eine Konsequenz gezogen: «Ich werde mich künftig in der freiwilligen Feuerwehr engagieren.»
- Gespräche mit den Lebensrettern
- Kantonspolizei Aargau: Koblenz: Postauto landet nach Frontalkollision am Aarebord
- Gespräch mit dem Betriebszonenleiter der Postauto AG
- «Blick»: «Der Bus hing in den Bäumen, kurz über dem Wasser»
- «Aargauer Zeitung»: Kind und Autofahrer bei Horror-Crash zwischen Auto und Postauto schwer verletzt – Helikopter fliegen sie ins Spital
- SRF: Zehn Verletzte nach Unfall mit Postauto