Leserfrage: «Mein Sohn kam aus dem Chindsgi heim und wollte Krieg spielen. Wie soll ich reagieren?»

Antwort von Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin:

Spielen bedeutet, die Welt zu begreifen.

Als ich vier Jahre alt war, spielten wir im Kindergarten «Contergan». Dieses Wort und die Betroffenheit, die es auslöste, waren in den Familien dieser Zeit allgegenwärtig. So fand es den Weg in unser freies Spiel.

Wir bauten und bastelten mit nur drei oder vier Fingern, wir versuchten Purzelbäume mit nur einem Arm und fädelten ungeschickt mit geschlossenen Augen bunte Glasperlen auf lange Schnüre. So näherten wir uns den Einschränkungen an, denen die beiden sogenannten Contergan-Kinder in unserer Gruppe von Geburt an ausgesetzt waren. Ihre Mütter hatten während der Schwangerschaft ahnungslos ein Medikament eingenommen, über dessen verheerende Nebenwirkungen man erst viel später Bescheid wusste.

In unserem Spiel waren die betroffenen Kinder, Hannah und Christoph, die Experten. Wir anderen erarbeiteten uns Empathie für ihr Handicap und Achtung für ihre Leistung.

Grosses Entsetzen

Das Ganze endete jäh, als Tante Inge, die Erzieherin, uns «erwischte» und uns aufgebracht und fassungslos zur Rede stellte. Was uns einfalle, ob wir uns nicht schämen würden, wie wir nur so böse und unanständig sein könnten … Wir waren vier Jahre alt und blieben verstört, beschämt und zutiefst verunsichert zurück. Hannah und Christoph versuchten uns zu trösten, aber wir verloren ein Stück weit unsere Unbefangenheit ihnen und auch uns selbst gegenüber. Eine Erinnerung, die in mir noch sehr lebendig ist. Was für ein verhängnisvolles Missverständnis!

Was hätten wir gebraucht damals?

Das, was Kinder auch heute brauchen.

Heute spielen schon die Kleinsten Krieg. Das ist es, was ihre Welt derzeit belegt. Krieg ist in aller Munde Sorgen um Ukraine «Wie mit diesen Gefühlen umgehen?» und auf allen Bildschirmen und Zeitungen. Es ist das, was dringend erfasst und verstanden sein will.

Rollenspiele ermöglichen Kindern, was die wortreichen Vorträge Erwachsener nicht hinbekommen: Sie machen etwas erlebbar. Nicht nur gelehrte Erwachsene wie Goethes Faust, auch Kinder haben eine tiefe Sehnsucht danach, zu verstehen, was die Dinge bedeuten und «was die Welt im Innersten zusammenhält».

Im freien Spiel nähern sie sich dem an. Sind mal Gewinner, mal Opfer, mal stark und mal schwach. Erleben Frust und Zorn, Scham und Mitgefühl. So verarbeiten sie einen Teil der diffusen, abstrakten Gefahr.

Lassen wir sie ungestört spielen.

«Krieg ist das, was derzeit dringend erfasst und verstanden sein will.»

Christine Harzheim, Psychologin

Natürlich kann auch Spiel entgleisen, kann eine Dynamik entwickeln, die einzelne Kinder belastet, verletzt. Und natürlich sind hier begleitende Erwachsene wie Tante Inge gefragt.

Aber nicht, indem sie die Erwachsenenkeule von Moral und Unterstellung schwingen, sondern indem sie sich interessiert und fragend annähern. Beschreiben, was sie wahrnehmen, was sie sich fragen, und dann die Sicht der Kinder einholen. Man kann Kinder fragen, wie sie sich fühlen im Spiel, wie sie die unterschiedlichen Rollen empfinden und ob sie meinen, dass das Spiel für alle okay ist.

Wir können also das Spiel laufen lassen und zugleich interessiert wahrnehmen, welche Stimmungen spürbar sind. Wichtig ist, bei Bedarf darüber mit den Kindern im Austausch zu bleiben, um zu erfahren, ob einzelne oder vielleicht die ganze Gruppe Unterstützung brauchen. Zum Beispiel, wenn sehr viel Aggressivität Unruhig und aggressiv Was ist bloss mit unserem Kind los? , Trauer oder Scham das Spiel bestimmen.

Wenn Erwachsene hier nur Verbote durchsetzen und zum Beispiel alles, was an Krieg und Kampf erinnert, aus den Kinderzimmern verbannen, wird das Kind das auslagern. Wenn es das Bedürfnis hat, etwas spielend zu erleben, wird es das auch tun. Dann wird im Geheimen der Kugelschreiber als Pistole eingesetzt – und eine Chance, zu sehen und zu verstehen, was das Kind beschäftigt, ist vertan.

Sensibler machen

Wenn uns Tante Inge gefragt hätte, dann hätten wir ihr erklärt, worum es geht. Sie hätte uns fragen können, ob wir Hannah und Christoph einfach nachäffen und ob wir wissen, wie unser Spiel ihnen gefällt. Sie hätte auch Hannah und Christoph fragen können, ob das Spiel okay ist oder es sich für sie gemein anfühlt. Sie hätte uns alle sensibler machen können für das, was Leben und Spielen bedeuten und auslösen kann. Und sie hätte verstanden, dass Kinder oft einen guten Grund haben, wenn sie Dinge tun – und dass man auf Augenhöhe mit ihnen darüber sprechen kann.

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