Beobachter: Herr Teller, macht es noch Freude, heute eine Kinderarztpraxis zu führen?
Jan Teller: Natürlich. Warum sollte es nicht?


Viele Praxen werden überrannt. Es fehlt an Personal. Der Frust vieler Eltern ist gross. Spüren Sie nichts davon?
Es stimmt. An vielen Orten ist das leider so. Hier bei uns in Langnau gehts zum Glück gerade noch. Es gibt noch eine zweite Kinderarztpraxis neben meiner, wir helfen uns gegenseitig aus. Klar, das Einzugsgebiet ist gross. Manche Eltern und ihre Kinder fahren von Sörenberg 40 Minuten zu uns. Aber man darf sagen: Die Kinder der Region Emmental und Entlebuch sind vollständig versorgt.


Schaffen Sie das in einem normalen Pensum?
Hmmm. Ich sage mal Ja. Zumindest in normalen Zeiten. Jetzt, während der Grippesaison, ist es schon stressig. Und wenn jemand ausfällt, wird es eng. Aber grundsätzlich ist man organisiert. Es gibt einen Notfalldienst. Wenn ich nicht eingeteilt bin, dann bin ich am Sonntag nicht für das gewöhnliche Ohrenweh zuständig. Aber natürlich habe ich immer die Verantwortung für die Region. Wenn Kinder eine Behinderung haben oder chronische Krankheiten, dann haben die Eltern auch meine private Handynummer.


Dann sind die Klagen Ihrer Kolleginnen und Kollegen übertrieben? Die Überstunden? Der administrative Aufwand? Die Unmöglichkeit, eine Nachfolge zu finden?
So würde ich das nicht sagen. Diese Probleme sind real. Ich werde in zwölf Jahren pensioniert. Ich glaube nicht, dass ich eine Nachfolge für meine Praxis finden werde. Und das Administrative ist tatsächlich ärgerlich. Die Zusammenarbeit mit den Krankenkassen zum Beispiel ist oft geradezu kafkaesk. Ich frage: Warum müssen wir das machen? Sie sagen: Wir wissen es auch nicht. Das System verlange das. Das nervt schon.


Aber?
Manchmal wünsche ich wirklich, die Kollegen und Kolleginnen würden nicht nur vom Negativen berichten. So will doch erst recht niemand Kinderarzt werden. Man soll auch mal sagen: Das ist ein super Beruf!


Was macht ihn so toll?
Der Umgang mit den Menschen. Mit den Kindern. Man hat jeden Tag mit 30 verschiedenen Menschen zu tun. In 29 Fällen sind das sehr schöne Erlebnisse. Und in der Gesellschaft eine Verantwortung zu übernehmen, ist sehr sinnstiftend. Was mache ich da eigentlich? – Diese Frage stelle ich mir nie.

«Wenn man mehr Kinderärztinnen und Kinderärzte will, muss man auch bei der Entlöhnung ansetzen.»

Jan Teller, Kinderarzt

Warum gibt es dann zu wenig Kinderärztinnen und Kinderärzte?
Erstens gibt es zu wenig Studienplätze. Das gilt für die Medizin allgemein. Die Politik will die Zahl zwar erhöhen, aber es geht zu langsam und genügt auch nicht. Letztlich scheut man die Kosten. Lieber holt man Leute aus dem Ausland. Beim spezifischen Kinderarzt-Mangel kommt zweitens ein ganz profaner Grund dazu: der Lohn. Wir verdienen etwa ein Drittel so viel wie ein Chirurg oder eine Chirurgin.


Warum ist das so?
So sind die Tarife. Gespräche mit Patienten – unsere Haupttätigkeit – sind schlecht abgegolten. Dafür bekomme ich einen Stundenlohn von 60 Franken. Ich will nicht klagen, das ist nicht wenig, im Vergleich mit anderen medizinischen Tätigkeiten aber schon. Und wir Kinderärzte können unseren Lohn nicht mit Operationen oder teuren radiologischen Untersuchungen aufbessern. Wenn man mehr Kinderärztinnen und Kinderärzte will, muss man auch bei der Entlöhnung ansetzen.


Kollegen von Ihnen bemängeln auch, dass im Ausland ausgebildete Ärzte zuerst drei Jahre Spitaldienst leisten müssen, bevor sie in einer Praxis arbeiten dürfen.
Der Antrag läuft, dass man in der jetzigen Situation Ausnahmen macht. Wenn ein Arzt in Pension geht und eine Nachfolgerin für seine Praxis hätte, dann sollte man es möglich machen, dass sie die Stelle antritt. Grundsätzlich macht es aber Sinn, sich zuerst in einem Spital mit den Gegebenheiten der Schweiz vertraut zu machen. Ich selber stamme aus Deutschland und habe zwölf Jahre in Schweizer Spitälern gearbeitet. Den Schweizer Impfplan, das System der IV, aber auch die Sprache und die Mentalität der Menschen – damit sollte man vertraut sein, bevor man als Kinderarzt in einem Dorf arbeitet.

«Ich muss mich gegen alles und jeden im Internet behaupten.»

Jan Teller, Kinderarzt

Stichwort Dorf. Warum gibt es vor allem auf dem Land zu wenig Kinderärztinnen und Kinderärzte?
Ist das wirklich so? Ich habe eher gehört, in der Stadt sei es für Eltern schwierig, jemanden zu finden. Wahrscheinlich ist die Situation wohl wirklich überall nicht einfach.


Viele junge Ärztinnen und Ärzte wollen Teilzeit oder in einer Gruppenpraxis arbeiten. Das sei ausserhalb der Zentren schwierig, heisst es. Stimmt das?
Dass man auf dem Land weniger Leute findet, liegt in erster Linie an Angebot und Nachfrage. Wenn sich eine Ärztin von zehn freien Stellen Pflege am Limit Zustand ein Jahr nach der Volksabstimmung? Kritisch eine aussuchen kann, dann kommt sie nicht nach Langnau, wenn sie nicht ohnehin schon in der Region lebt.


Warum nicht?
In Zürich oder Bern leben, Teilzeit auf dem Dorf als Kinderarzt arbeiten und ab 17 Uhr Feierabend machen, das geht einfach nicht. Moderne Arbeitsmodelle sind wichtig und möglich, finde ich. Man kann Verantwortung teilen. Aber man kann sie nicht abgeben. Kinderärzte und Kinderärztinnen sind Vertrauenspersonen. Sie müssen im Notfall erreichbar sein. Ich sage nicht, das ist eine Berufung, wir sind keine Mönche. Aber ein 08/15-Job ist es auch nicht.


Was ist dran am Klischee, dass die Eltern heute immer schneller zum Arzt oder in den Notfall rennen?
Wie bei jedem Klischee steckt ein Stück Wahrheit drin. Darum bemühe ich gleich ein weiteres – das der robusten Landbevölkerung. Mein Einzugsgebiet reicht ja vom hintersten «Chrachen» bis in die Agglo von Bern. Wenn am Sonntag ein Vater in den Notfalldienst anruft, seine Tochter habe seit dem Morgen Schnupfen, dann kommt er eher aus Burgdorf. Wenn die Mutter am Telefon sagt, ihr Sohn habe seit drei Tagen 41 Grad Fieber, ob sie vielleicht am Montag mal vorbeikommen dürfe – dann ist sie meist in Trub zu Hause (lacht). Auf dem Land ist man schon noch etwas unaufgeregter.

«Obwohl alle Remo Largo lieben, kommt seine Botschaft nicht wirklich an.»

Jan Teller, Kinderarzt

Sie sind seit 20 Jahren Kinderarzt. Wie haben sich die Eltern in dieser Zeit verändert?
Deutlich zugenommen hat die Angst, etwas Falsches zu machen oder etwas zu verpassen. Sie wissen, wenn ihr Kind hustet, ist das noch nicht schlimm, aber trotzdem fürchten sie, sie könnten zu wenig abklären, zu wenig vorsorgen. Das Gleiche bei der Erziehung oder Förderung: Viele haben das Gefühl, für alles brauche es einen Kurs oder sofort eine Therapie. Kein Cranio Sacral? Dann hält man dem Kind etwas vor. Das Kind kam per Kaiserschnitt? Dann muss man sofort etwas tun, um die fehlende Geburtserfahrung zu kompensieren.


Woher kommt das? Gefühlt lesen doch alle Eltern die Bücher von Remo Largo, in denen er schreibt, dass jedes Kind individuell sei und sich in seinem eigenen Tempo entwickle.
Das stimmt. Aber ich denke oft: Obwohl alle den grossen Kinderarzt lieben, kommt seine Botschaft nicht wirklich an. Die Eltern lesen eben auch noch ganz viel anderes. Diese Informationsflut verwirrt eher, als dass sie nützt.


Sind die Eltern kritischer gegenüber Ihren Diagnosen als früher?
Ja. Viele schon. Das ist ja nicht per se schlecht. Aber die Infos einzuordnen, fällt vielen schwer. Jede Quelle ist für sie gleich vertraulich. Ich muss mich gegen alles und jeden im Internet behaupten. Und was da kommt, ist teilweise hanebüchen.


Wie soll man sich das vorstellen?
Wirklich krass wurde es bei Corona. Da wollten Eltern Maskendispensen für ihre Kinder, weil die Masken Befreiung von Maskenpflicht «Das ist mit Sicherheit kein gültiges Attest» ihnen weiss Gott was für Schäden zufügen würden. Ich wurde mehrfach beschimpft, ich würde den Kindern bewusst schaden.


Kommen diese Eltern jetzt wieder zu Ihnen?
Lustigerweise ja. Ich dachte, die sehe ich nie wieder. Aber das hat sich wieder beruhigt. Man tut so, als wäre nie etwas gewesen.

«Ich weiss nicht wie, aber bei der Kinderpsychologie muss die Politik dringend etwas tun.»

Jan Teller, Kinderarzt

Wenn Eltern sich übertriebene Sorgen machen, wie treten Sie dem entgegen?
Ich trete dem nicht entgegen, sondern nehme sie ernst. Mein Selbstverständnis ist das eines Dienstleisters. Wenn mir jemand am Sonntag den Husten seines Kindes zeigen will und ich Notfalldienst habe, dann schaue ich mir das an. Und versuche dann, die Eltern zu beruhigen.


Generell: Wie geht es unseren Kindern?
Die Schere geht auseinander. Viele Kinder sind sehr gesund, aktiv, vif. Noch nie wussten Eltern so viel über gesunde Ernährung, wie wichtig Bewegung ist et cetera. Und dann gibt es die anderen Kinder. Die noch dicker sind als früher. Noch mehr Zeit vor dem Handy verbringen. Das Gleiche gilt bei der psychischen Gesundheit. Vielen geht es sehr gut, manchen sehr schlecht. Dieses Auseinanderdriften, dem müssen wir als Gesellschaft unbedingt entgegenwirken. Ich würde aber gerne noch etwas loswerden. Einen Hilferuf.


Bitte.
Einen wirklichen Mangel, ein wirklich grosses Problem, haben wir in der Kinder- und Jugendpsychologie Suizide junger Menschen «Sie wollen nicht sterben» . Wie oft wollte ich schon Kinder überweisen, die dringend Hilfe benötigten. Oder jugendliche Flüchtlinge, die schwer traumatisiert sind. Aber ich finde niemanden. Die Wartezeiten dauern ein halbes Jahr oder mehr. Ich weiss nicht wie, aber hier muss die Politik dringend etwas tun.

Zur Person

Jan Teller leitet seit 20 Jahren die Kinderarztpraxis an der Ilfis in Langnau BE. Der 56- Jährige ist in Neu-Ulm, Deutschland, aufgewachsen und studierte Medizin in Ulm. Die Ausbildung zum Facharzt machte er in St. Gallen, Zürich und Lausanne. Teller ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. In seiner Freizeit spielt er Waldhorn im Langnauer Orchester.

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Raphael Brunner, Redaktor
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