Zu viele Patienten, zu wenig gut ausgebildetes Personal. Zu viel Druck, zu wenig Zeit. Gegen diesen Missstand protestieren am 26. November erneut Pflegepersonen auf dem Bundesplatz in Bern. Obwohl genau vor einem Jahr die Volksinitiative für eine starke Pflege unter grossem Jubel der Pflegenden und mit klaren 61 Prozent angenommen wurde.

Gelöst sind die Probleme nicht. So war beispielsweise in vielen Kinderkliniken schweizweit die Situation schon sehr angespannt. Als jetzt sehr viele Babys und Kinder am Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) Volle Kinderspitäler Die wichtigsten Fragen und Antworten zum RS-Virus erkrankten, kamen die Spitäler vollends an ihre Grenzen; in Zürich etwa müssen geplante Operationen vertagt werden. Im Kanton Bern wurden zwei Akutstationen in der Psychiatrie geschlossen. Und auch andere Spitäler mussten wegen Personalmangels Betten schliessen.

«Die Situation ist mehr als angespannt», sagt Yvonne Ribi, Aushängeschild der Pflegeinitiative und Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbands für Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK. Weitere Personalausfälle seien im kommenden Grippe- und Covid-Winter kaum zu verkraften.

Eine Milliarde für die Pflegeausbildung

Die guten Neuigkeiten: Dem Parlament ist die Dringlichkeit bewusst. Im September hat der Ständerat das erste Paket – die mit einer Milliarde Franken dotierte Ausbildungsoffensive – einstimmig angenommen. Anfang Dezember wird der Nationalrat entscheiden. Die Zeichen stehen gut, dass Ende Jahr die notwendigen Bundesgesetze für das erste Paket geschrieben sind.

Von der Milliarde sollen vor allem die Studierenden profitieren. 450 Millionen Franken dürften in die Lebenshaltungskosten während der Ausbildung fliessen, damit sich auch jene mit knappem Budget ein Studium der Pflege leisten können. 450 Millionen gehen direkt an Spitäler und Institutionen, damit sie zum Beispiel das Personal für eine gute praktische Ausbildung überhaupt finanzieren können. Und 100 Millionen kommen den Höheren Fachschulen und Fachhochschulen zu, damit sie genügend gute Ausbildungsplätze schaffen können.

«Mehr Geld allein reicht nicht, es braucht einen Plan, wie mehr Leute in den Pflegeberuf gebracht werden können.»

Lukas Engelberger, Präsident Schweize­rische Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK)

So rechnet zumindest Jörg Meyer, Präsident des Verbands Bildungszentren Gesundheit Schweiz. Er ist Mitglied einer Arbeitsgruppe des Bundesamts für Gesundheit (BAG) zur Umsetzung der Pflegeinitiative. «Grundvoraussetzung für diese schönen Pläne ist, dass die Kantone nicht klemmen.» Denn: Der Bund zahlt seine gesprochene halbe Milliarde nur, wenn auch die Kantone ihre halbe Milliarde aufbringen. Tun sie das?

Eine Nachfrage bei der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK), dem politischen Koordinationsorgan der Kantone in der Gesundheitspolitik, bringt nicht viel Aufschluss. GDK-Präsident Lukas Engelberger sagte kürzlich in der Sendung «Kassensturz»: «Mehr Geld allein reicht nicht, es braucht einen Plan, wie mehr Leute in den Pflegeberuf gebracht werden können und wie der Beruf für die bestehenden Arbeitskräfte attraktiver gemacht werden kann.» Den Kantonen sei bewusst, dass das Gesundheitswesen unter grossem Druck steht.

Portrait Adriana Aeschlimann

Adriana Aeschlimann, 22, befindet sich in Ausbildung zur Pflegefachfrau HF am Kinderspital St. Gallen.

Quelle: ZVG
Adriana Aeschlimann
«So, wie es jetzt läuft, kann ich mir diese ­Arbeit nicht für ­immer vorstellen»

Unfair verteiltes Geld

«Wenn die Milliarde tatsächlich zusammenkommt, muss sie auch Wirkung zeigen», sagt Bildungsexperte Meyer. Nicht alle Auszubildenden würden vom Geld profitieren, und das werde wahrscheinlich viele enttäuschen. Denn heute verdienen etwa Studierende an den Höheren Fachschulen während der dreijährigen Ausbildung zur diplomierten Pflegefachperson 1400 Franken im Monat. Das ist zwar nicht viel, aber immer noch besser als bei den Bachelor- und Masterstudierenden Pflege. Die erhalten nämlich gar nichts. Mit der Begründung, dass Erstere mehr Praxisarbeit leisten, während die anderen mehr die Schulbank drücken.

«Das ist nicht gerechtfertigt und lindert den Mangel nicht», findet Sabine Hahn, Professorin und Leiterin Pflege an der Berner Fachhochschule. Schliesslich würden Fachleute dringend gesucht und gebraucht. Im Rahmen der Ausbildungsoffensive müsse man dies ändern und so vorgehen wie seit kurzem der Kanton Tessin. Hier bekommen Studierende im Gesundheitsbereich eine Ausbildungsvergütung.

Wird die Pflegeausbildung unbeliebter?

Was ebenfalls Sorgen bereitet: Nachdem zuletzt die Eintritte ins Berufsfeld Pflege stetig zunahmen, rechnen Fachleute wie Jörg Meyer dieses Jahr mit bis zu zehn Prozent weniger Pflege-Studierenden als im vergangenen Jahr. Die definitiven Zahlen liegen zwar noch nicht vor, aber es deutet sich eine alarmierende Trendwende an.

Gianna Uffer ist eine der Neueinsteigerinnen, auf denen die Hoffnungen ruhen. Die 16-Jährige macht die Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit (FaGe) und ist voller Enthusiasmus. Nur manchmal plagen sie Zukunftsängste: «Ich weiss, wie streng der Beruf sein kann. Aber dann denke ich, das packe ich schon.»

Gianna Uffer, Fachangestellte Gesundheit beim Stadtspital Triemli

Gianna Uffer, 16, befindet sich in Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit in einem grossen Spital in Zürich.

Quelle: Roger Hofstetter
Gianna Uffer
«Als Lernende stehe ich noch unter einem gewissen Schutz»

60 bis 70 Prozent der FaGes beginnen nach der Lehre eine Ausbildung zur diplomierten Pflegefachperson – wie zum Beispiel Adriana Aeschlimann und Peter Renggli. Renggli gehört zu den rund 20 Prozent Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern in Pflegeberufen. Wie bei Primar- und Sekundarschulen ruhen auch in der Pflege die Hoffnungen auf Branchenfremden.

«Unbestritten ist, dass es nichts nützt, wenn wir neue Fachleute ausbilden, ohne an den Arbeitsbedingungen zu schrauben», sagt Bildungsfachmann Jörg Meyer. Denn fast 40 Prozent der frisch ausgebildeten Pflegepersonen verlassen den Beruf in den ersten sieben Jahren. Laut Ribi vom SBK werden so jeden Monat 300 Pflegestellen vakant – netto. Dabei brauchte es mehr, nicht weniger Pflegende. Allein in der Langzeit- und Alterspflege wird sich wegen der Überalterung der Gesellschaft der Bedarf in den nächsten 20 Jahren mehr als verdoppeln, so das Schweizerische Gesundheitsobservatorium Obsan.

Ungelöste Probleme in der Pflege

Grosse Hoffnungen ruhen deshalb auf dem zweiten Paket der Initiative, mit dem die Arbeitsbedingungen verbessert werden sollen. Das BAG muss bis Ende Jahr ein erstes Aussprachepapier ausarbeiten.

«Im Abstimmungskampf wurden sehr grosse Erwartungen darin gesetzt. Ich bezweifle aber, dass sie alle erfüllt werden können», sagt Bernadette Häfliger, Leiterin Abteilung Gesundheitsberufe beim BAG. Und bis mehrheitsfähige Lösungen auf Bundesebene auf dem Tisch sind, kann es Jahre dauern. Wohl zu spät für viele Pflegende Kommentar zum Ja zur Pflegeinitiative Der Handlungsbedarf bleibt gross .

Portrait Peter Renggli

Peter Renggli, 56, ist Quereinsteiger Pflegefachmann HF bei der Spitex Nidwalden.

Quelle: ZVG
Peter Renggli
«Hier ­verdiene ich so ­wenig wie in meinem alten Beruf vor 20 ­Jahren»

Ein anderes Problem ist ungelöst. Die Initiative hat nichts an der Kompetenzordnung zwischen Bund und Kantonen geändert. Das heisst: Der Bund darf den Kantonen und Institutionen in Sachen Arbeitsbedingungen keine Vorgaben machen. Ein Problem, sagt Häfliger: «Wenn alle nur auf die Umsetzung der Initiative durch den Bund warten, bringt das unsere Gesundheitsversorgung an die Grenzen. Es muss rasch gehandelt werden.» Das sieht Yvonne Ribi vom SBK gleich: «Noch warten die Kantone auf den Bund, anstatt mit ihren Betrieben zu reden und vorwärtszumachen. Anscheinend brauchen sie noch mehr Druck.»

Und so werden Yvonne Ribi, der SBK, die Gewerkschaften und zahlreiche Pflegepersonen am 26. November wieder auf dem Bundesplatz stehen. Und werden Sofortmassnahmen von Kantonen und Institutionen fordern: Lohnerhöhung und Arbeitszeitreduktion. Zulagen, etwa für kurzfristige Dienstplanänderungen. Mehr Ferien und Zuschüsse für die Kinderbetreuung. Damit wenigstens die Berufsausstiege gestoppt werden können. Jetzt – und nicht erst, wenn es zu spät ist.

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Birthe Homann, Redaktorin
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