Liebe Mütter

Bald steht Ihr wieder im Mittelpunkt, denn bald ist Muttertag. Wenn sie trotz Corona dürften, hätten die Parteien landauf, landab wieder Standaktionen und würden Euch Blumen und Schokolade verschenken. Aber nicht nur Euch. Jeder weiblichen Person, die kein Mädchen mehr ist, würden Blumen und Schokolade in die Hand gedrückt – obwohl doch mittlerweile dem und der Hinterletzten klar sein müsste, dass Frau-sein etwas mit Mutter-sein zu tun haben kann, aber nichts zu tun haben muss. 

Schliesslich gibt es auch Frauen, die wollen keine Kinder, können oder dürfen keine haben. Es gibt auch Frauen, die zwar Kinder haben, aber keinen Kontakt zu ihnen pflegen können. Und Frauen, die ihre Kinder verloren haben. 

Für all diese Frauen ist der Muttertag ein Schlag ins Gesicht. Und Euch, liebe Mütter, nimmt man am Muttertag nicht ernst.

«Euch steht mehr zu»

Ich habe nie verstanden – und übrigens auch meine Mutter nicht –, was dieses Theater mit dem Muttertag eigentlich soll. Uns Kinder feiert man schliesslich auch nie, dachte ich mir damals als kleiner Walter. Am Geburtstag schon, da werden wir aber ein Jahr älter und deshalb gibt es Geschenke Beziehung Kleine Aufmerksamkeiten erhalten die Liebe . Geschenke gibt es auch an religiösen Feiertagen, von Weihnachten über das Fest des Fastenbrechens und Simchat Tora bis hin zum tibetischen Losar: All das sind jährlich wiederkehrende Feier- und Gedenktage, da schenkt man wild um sich. 

Aber Geschenke zum Muttertag? Wozu? Statt Euch beschenken zu lassen, solltet Ihr einfordern, dass jeder Tag im Jahr Muttertag ist. Ansonsten ist der Muttertag so überflüssig wie der I-love-my-dentist-day, der Welttag gegen die Misshandlung älterer Menschen oder der Tag des deutschen Schlagers. Einmal jährliche Zahnpflege Zahnpflege Was uns die Zahnfee verschwieg reicht schliesslich auch nicht aus, und man soll das ganze Jahr hindurch niemanden misshandeln. Und wer Schlager mag, schaltet auch nicht bloss am dritten Samstag im Januar die SRF-Musikwelle ein. 

Also, liebe Mütter: Euch steht mehr zu als ein jährlicher Gedenktag. 

Wenn Ihr Euch aber mit Schokolade und Blumen zufrieden gebt, dann wäre das, wie wenn sich die Gewerkschaften damit abgefunden hätten, dass die Arbeitnehmenden am 1. Mai in einigen Kantonen frei haben – oder sich vom Genfer- bis zum Bodensee zumindest ein Feierabendbier leisten können. 

Ein Anfang ist gemacht

Einen Anfang habt Ihr schon gemacht: Die meisten von Euch verbitten sich ein Muttertagsfrühstück, das Jahr für Jahr in der Werbung zelebriert wird – schliesslich seht Ihr am frühen Morgen nicht wie Betty Draper aus «Mad Men» aus, die stets geschminkt und hübsch frisiert in gebügelten Laken erwacht. Aber Verbote reichen nicht:

  • Gebt Euch nicht damit zufrieden, dass Eure beruflichen Ambitionen wegen Eurer Mutterschaft bachab gehen.
  • Sorgt dafür, dass Eure Finanzen im Lot bleiben, auch wenn die Beziehung scheitert.
  • Akzeptiert nicht, dass Ihr für den Grossteil der Hausarbeiten zuständig seid, schon gar nicht dann, wenn Ihr Vollzeit arbeitet. Kochen, waschen und putzen können wir, eure Kinder, nämlich auch (wenn Ihr uns lasst).
  • Seid nicht so genügsam, dass wir bloss einmal im Jahr besonders nett zu Euch sind. Seid Euch aber gleichzeitig bewusst, dass Ihr keinen Anspruch auf unsere Zuwendung habt.
  • Fordert nichts, was Euch nicht zusteht. Wir Kinder sind keinen Vertrag mit Euch eingegangen. Ihr wolltet uns, nicht wir Euch.
  • Lest das Buch «Warum wir unseren Eltern nichts schulden».

Dann nehmen wir Kinder Euch Mütter ernst. Dann bemühen wir uns, eine gute Beziehung zu Euch zu haben und wir werden Euch an jedem Tag im Jahr mit Respekt begegnen. Und manchmal überraschen wir Euch dann mit einem Blumenstrauss.

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Dominique Strebel, Chefredaktor
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