Jennifer Lütold hatte ein genaues Drehbuch im Kopf: Sanft und entspannt sollte die Geburt werden. Kerzen für romantisches Licht, die Stimmung gelassen und humorvoll, sie selbst entspannt, der Damm dehnbar, das Teamwork mit ihrem Mann super, die Schmerzen erträglich. Medizinische Interventionen würden nicht nötig sein.

Was nach Wunschkonzert und Idealisierung klingt, wurde für die dreifache Mutter aus dem Aargau Wirklichkeit. Dank Selbsthypnose konnte sie entspannt bleiben und die Schmerzen «veratmen». Nach 3 Stunden und 10 Minuten war ihr erster Sohn auf der Welt. Die Geburt war einfach und unkompliziert, alles lief perfekt – genau, wie sie es sich gewünscht hatte.

Schon zu Beginn ihrer Schwangerschaft war die damals 24-Jährige überzeugt, dass sie normal gebären könne. «Dafür ist mein Körper ja gemacht. Ich hatte vollstes Vertrauen in ihn.»

Um dieses Urvertrauen nicht zu gefährden, verzichtete sie auf die üblichen Ultraschalluntersuchungen. Denn sie hatte miterlebt, wie eine Freundin die ganze Schwangerschaft hindurch Angst hatte, nachdem eine minimale Abweichung von der Norm festgestellt worden war. Das wollte Lütold nicht erleben. Sie war sich sicher: Mit dem Kind ist alles gut. Und wenn etwas nicht gut sein sollte, dann wäre es früh genug, wenn sie es bei der Geburt erfahren würde.

Pool und Lotusgeburt als Wunsch

Sie recherchierte im Internet, las Bücher, besuchte einen zweitägigen Geburtsvorbereitungskurs. Entschied sich für eine Hausgeburt. «Die Geburt ist für mich etwas Intimes», erklärt sie. «Ich wollte dafür einen geschützten Rahmen.» Keine fremden Hebammen und Ärzte, die bei Schichtwechsel einfach so das Zimmer betreten. Stattdessen entschied sie sich für eine Hebamme, bei der sie auf Anhieb wusste: Sie ist die Richtige, um mich während der Geburt zu unterstützen.

Die Hebamme führte die Vorsorgeuntersuchungen durch und hatte ein offenes Gehör für ihre Vorstellungen. Von denen sie nicht gerade wenige hatte: Lütold wollte zu Hause einen Geburtspool aufstellen und im Wasser gebären, Selbsthypnose zur Schmerzlinderung anwenden, und eine Lotusgeburt sollte es auch noch werden. Das bedeutet, dass man die Nabelschnur nicht wie üblich von der Plazenta trennt, sondern wartet, bis sie von allein abfällt. «So kann der Nährstoffaustausch noch eine Weile stattfinden.» Damit es nicht zu riechen beginnt, salzt man die Plazenta ein und hüllt sie in einen Beutel. Nach vier bis fünf Tagen fällt sie ab.

«Es ist ethisch nicht korrekt, den Willen der werdenden Mutter zu übergehen.»

Stephan Oelhafen, Studienleiter Fachhochschule Bern

Für den Fall, dass sie während der Geburt notfallmässig ins Spital müsste, hielt die Hochschwangere ihre Wünsche schriftlich fest und notierte dazu: Sie vertrage keine ätherischen Düfte, wolle nicht ungefragt untersucht werden. Nicht «am Tropf» hängen, wenn es nicht unbedingt nötig sei. Ihr Mann sollte dafür sorgen, dass ihre Wünsche respektiert würden.

Aus gutem Grund. Gemäss einer aktuellen Studie der Berner Fachhochschule Gesundheit erlebt jede vierte Mutter in der Schweiz während der Geburt einen informellen Zwang. Viele Gebärende fühlen sich einseitig informiert, manipuliert oder unter Druck gesetzt. Sie sahen sich gezwungen, medizinischen Untersuchungen oder Interventionen zuzustimmen, ergab eine Online-Umfrage bei über 6000 Müttern.

«Es wird einfach gemacht, ohne zu fragen», sagt Studienleiter Stephan Oelhafen. Ebenfalls verbreitet und wirksam sei die Methode, einen bestimmten Behandlungsvorschlag so lange zu wiederholen, bis die Gebärende einwillige. «Es ist ethisch nicht korrekt, so den Willen einer Frau zu übergehen.» Häufig würde den Frauen auch Angst gemacht, dass es für das Kind oder sie selbst gesundheitliche Folgen haben könnte, wenn beispielsweise die Saugglocke nicht zu Hilfe genommen werde oder man keinen Notkaiserschnitt mache.

Zu oft Druck

Aber fehlt während einer Geburt manchmal nicht einfach die Zeit, um gründlich zu informieren? Um der Frau ausreichend Zeit zum Überlegen und Entscheiden zu geben? Natürlich gebe es solche Situationen, sagt Oelhafen. «Aber die können gar nicht so häufig sein, wie Druck gemacht wird.» Als Laie könne man die Gefahr in einer solchen Situation nicht so gut einschätzen. «Sobald ausgesprochen ist, was im schlimmsten Fall passieren könnte, wollen die Eltern die Verantwortung nicht mehr übernehmen. Und auch nicht die Hebammen, auch wenn sie die Situation vielleicht anders einschätzen.»

«Das Recht auf körperliche Unversehrtheit steht über allem.»

Barbara Stocker, Präsidentin des Schweize­rischen Hebammenverbands

Oelhafen erklärt sich die unbefriedigende Situation mit der hohen Arbeitsbelastung des Gesundheitspersonals, der Fachleute. «Sie führen Eingriffe routiniert durch und können sich nicht immer vorstellen, was ein Eingriff wie eine Fruchtblasenöffnung oder ein Dammschnitt für eine Frau bedeutet.»

Barbara Stocker, Präsidentin des Schweizerischen Hebammenverbands, erstaunen die Ergebnisse der Studie nicht. Es sei die Aufgabe der Hebammen, den Schwangeren aufzuzeigen, welche Rechte sie hätten und welche Erwartungen sie an das Gesundheitspersonal haben dürfen. «Gebärende müssen über die Vor- und Nachteile einer medizinischen Intervention aufgeklärt werden. Und sie müssen wissen, welche Konsequenzen es haben könnte, wenn man darauf verzichtet.» Nur so könne die Patientin eine informierte Entscheidung treffen.

«Maximalforderungen» vs. Sicherheit

Bei der Geburt wird oft vorsorglich ein intravenöser Zugang gelegt, etwa für den Fall eines grossen Blutverlusts. Doch das könnten nicht einfach die Richtlinien des Spitals vorgeben, sagt Stocker. Die Frau entscheide. «Das Recht auf körperliche Unversehrtheit steht über allem.» Als Hebamme könne sie eine Frau, die auf die Vorsichtsmassnahme eines intravenösen Zugangs verzichten wolle, durchaus unterstützen. Denn sie weiss aus Erfahrung, dass sich Komplikationen fast immer ankündigen und man sich dann immer noch – gemeinsam – für den Eingriff entscheiden kann.

Heikel wird es, wenn Gesundheitspersonal mit «Maximalforderungen» konfrontiert wird und die Sicherheit von Kind und Frau nicht mehr gewährleistet werden kann. Stocker musste einmal selbst erleben, wie eine strenggläubige Frau einen Notkaiserschnitt ablehnte, als bei einer Untersuchung festgestellt worden war, dass die Herztöne des Kindes nicht mehr gut waren. Das Fachpersonal konnte die Frau nicht überzeugen und musste sie ziehen lassen. Das Kind verstarb.

Das Team sei in Aufruhr gewesen – hatte man richtig gehandelt? Ja, sagt ein vom Hebammenverband in Auftrag gegebenes Gutachten: Ohne Einwilligung der Frau darf kein Eingriff gemacht werden. Stocker empfiehlt Hebammen deshalb, Aufklärungsgespräche und die Ablehnung von Interventionen im Vorfeld schriftlich festzuhalten.

Geburten so sicher wie noch nie

Nicht alle fordern in der Schweiz Selbstbestimmung beim Gebären ein. Frauen mit Migrationshintergrund etwa trauen sich oft weniger, ihre Bedürfnisse zu äussern. Frauen wie Jennifer Lütold hingegen, die sich intensiv mit der Geburt befassen, gelingt dies besser.

Dass die Geburt zum persönlich gestalteten Erlebnis wird, ist eigentlich eine naheliegende Entwicklung – die wohl vor allem auch deshalb möglich wurde, weil Geburten für Frauen und Kinder hierzulande grundsätzlich noch nie so sicher waren wie heute.

Mit einem Geburtsplan Sicherheit gewinnen
  • Wer ist bei der Geburt dabei?
  • Wie viele Untersuchungen und welche Schmerzlinderung möchte ich?
  • Welche Eingriffe sollen wenn immer möglich vermieden werden?

Diese und weitere Fragen werden in einem persönlichen Geburtsplan beantwortet. Vorlagen findet man im Internet, Hebammen unterstützen beim Verfassen.

Der Geburtsplan wird mit ins Spital oder ins Geburtshaus genommen und hilft, sich über die eigenen Vorstellungen und Bedürfnisse klar zu werden.

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Julia Hofer, Redaktorin
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