Wer kennt sie nicht, diese Sprichwörter, die uns eine Lehre im Alltag sein sollen: «Wer ernten will, muss säen», «Wer rastet, rostet» oder «Jeder Topf findet seinen Deckel».

Einst wurden sie grosszügig geteilt – bis ihre Sinnhaftigkeit irgendwann einem verwitterten Autoaufkleber glich. Wer die antiquierten Sprüche ausgrub, war gedanklich bereits degradiert. Jüngere Generationen sprangen gar nicht erst auf den Höflichkeitszug auf, die Uraltsprüche erhielten maximal ein müdes Lächeln. Zumindest kam es mir in der Schweiz so vor.

Ganz anders im Kosovo: Eine Unterhaltung zu führen, ohne sie mit einer Geschichte, einem Sprichwort, einer Anekdote zu illustrieren, ist schier unmöglich. Die weisen Worte gehören zum guten Ton und haben sogar eine eigene Philosophie: «Wer die Kunst des Gesprächs beherrscht, verschönert den Ort und die Gesellschaft» – oder im Original: «Aj qe ja din bisedes rendin, e hjeshon vendin dhe kuvendin.» Auch Jüngere schmücken sich mit Erzählungen und Sprichwörtern, selbst in der digitalen Welt erfreuen sich die Menschen an den Phrasen.

Eine solche Weisheit hörte ich kürzlich von einem meiner Onkel im Kosovo. Ein Familienmitglied war verstorben, und die Tradition verlangte, den Toten gleich am nächsten Tag zu begraben. Aufgrund der Distanz konnten wir einmal mehr weder der Beerdigung noch der Trauerfeier beiwohnen.

Der Verstorbene war ein Cousin, der Kinder in meinem Alter hatte. Am Telefon sprach ich meinem Onkel mein Beileid aus. Ich erwähnte auch, dass besonders meine Mutter unter dem Todesfall leide und bedaure, nicht im Kreis der Familie trauern zu können.

«Fern der Heimat ist die Freude nicht einfach zu ertragen, geschweige denn die Trauer», antwortete mein Onkel – und schenkte mir mit dem Satz zwei bittere und doch wertvolle Gedanken. Er erinnerte mich daran, dass wir die oft benötigte Geborgenheit für Freiheit eingetauscht haben. Die dreitägige Totenfeier würde uns keinen Trost spenden.

Und er zeigte mir, wie wir in der Diaspora von unseren Landsleuten in der Heimat wahrgenommen werden. Ich realisierte zum ersten Mal, dass auch unser Schmerz anerkannt wird. Und dass es doch noch Verständnis für die Menschen gibt, die in einem neuen Land ihr Zuhause gefunden haben.

Der Satz meines Onkels war eine Offenbarung für mich. Ich verabschiedete mich von ihm und dankte ihm mit einer Redewendung, die mir das Leben in der Schweiz vor Jahren vermacht hatte. Sie sollte ihm dieselbe Hoffnung schenken wie einst mir: «Es gibt kein Wunder für den, der sich nicht wundern kann.»

Zur Person
Shqipe Sylejmani