Beobachter: Frau Sylejmani, ihr Buch heisst «Bürde & Segen». Welche Bürde trägt Ihre Protagonistin?
Shqipe Sylejmani: Wenn Menschen von Integration reden, denken sie nur daran, dass sich Einwanderer anpassen sollen. Sie vergessen, dass auch das Land, das man verlässt, Erwartungen hat: Man soll die Sprache bewahren, die Traditionen leben und die Familie unterstützen, die zurückbleibt. Doch die Schweiz verlangt einen Entscheid, sie sagt: Du kannst nicht Schweizerin und Albanerin gleichzeitig sein.


Sie waren vier Jahre alt, als Sie mit Ihren Eltern von Pristina nach Muttenz BL zogen.
Die Generation meiner Eltern trägt die grössere Last. Sie durften hier nicht in ihren angestammten Berufen arbeiten, auch nicht, wenn sie studiert hatten, mussten ihr Leben lang harte körperliche Arbeit leisten. Sie führen ihr Leben in einer Art Zwischenwelt, auch nach 30 Jahren sprechen sie vom «Gastrecht» in der Schweiz, gehen auch dann zur Arbeit, wenn sie krank sind, bitten um nichts. Wir Kinder sind in ihrer Schuld, auch das ist eine Bürde.


Ihre Generation verhält sich anders.
Ja, wir trauen uns, zu sagen: Wir sind hier aufgewachsen, wir leisten unseren Beitrag, wir gehören hierher – und wir arbeiten nicht nur im Detailhandel oder auf dem Bau. Wir erlauben uns, grösser zu denken, und verstecken uns nicht.

«Ich hätte im Kosovo nie die Chancen gehabt, die ich hier hatte und habe, das ist ein Segen. Meine Generation kann sich hier verwirklichen, privat und beruflich.»

Shqipe Sylejmani, Journalistin und Autorin

Es sind vor allem junge Frauen, die von sich reden machen.
Ich glaube, das betrifft nicht nur Migrantinnen. Wir Frauen sind müde geworden, uns ständig zurückzunehmen. Dieser Wandel hat auch die Albanerinnen angesteckt. Wir fordern unseren Platz ein – in der Schweiz, in unseren Familien. Hätte ich vor 15 Jahren eine Fernsehsendung moderiert, hätte das heftige Diskussionen ausgelöst; eine albanische Tochter in der Öffentlichkeit … Was, wenn sie negativ auffällt? Heute bekomme ich Hunderte Nachrichten, von Müttern, die schreiben, sie hofften, ihre Mädchen schlügen einen ähnlichen Lebensweg ein wie ich. Die Idee, dass eine Frau nur mit Mann vollständig ist, verblasst auch in der albanischen Gemeinschaft.


Sie sind 33 und nicht verheiratet.
Daran ist meine Mutter nicht unbeteiligt. Sie sagte: Wenn du studieren willst, kannst du nicht Ehefrau sein. Bei uns heiratet man ja nicht nur den Partner, sondern seine ganze Familie dazu. Alle haben Erwartungen an die Braut. Da bleibt wenig Platz für eine Karriere. Es gibt ein schönes Sprichwort im Albanischen: Wenn man eine gute Schwiegertochter bekommt, dann gewinnt man eine Tochter; wenn man eine schlechte bekommt, verliert man einen Sohn – das gilt auch umgekehrt. Das ist die Angst, die dazu führt, dass sich Eltern einen Ehepartner aus der gleichen Kultur wünschen. Ein Thema, das ich im nächsten Buch thematisieren werde. Es ist an der Zeit. 


Auch nach dem Studium haben Sie nicht geheiratet.
Das verstand dann niemand mehr. Es ist ein Prozess, den viele Frauen in Einwandererfamilien durchlaufen. Ich sage es mal so: So, wie die Eltern uns als Kind erzogen haben, so erziehen wir als erwachsene Frauen ein bisschen unsere Eltern. In den meisten Interviews werde ich gefragt, ob meine Eltern einen Schweizer Schwiegersohn akzeptieren würden. Das ist die Frage aller Fragen, wenn es um Integration geht. Ganz ehrlich: Meine Eltern wären inzwischen einfach froh, wenn ich jemanden fände, der mich glücklich macht.


Sprechen wir über den anderen Teil Ihres Buchtitels: den Segen.
Ich hätte im Kosovo nie die Chancen gehabt, die ich hier hatte und habe, das ist ein Segen. Meine Generation kann sich hier verwirklichen, privat und beruflich. Das ist auch für mein Herkunftsland ein Segen. Die Exilgemeinschaft hat einen enormen Einfluss auf die politische und wirtschaftliche Entwicklung des Kosovo.

«Durch unsere Errungenschaften haben wir ­unseren Eltern bewiesen, dass wir alles möglich machen können, dass ihre Opfer nicht umsonst waren.»

Shqipe Sylejmani, Journalistin und Autorin

Ist die Schweiz nicht ein Land, das es einem schwer macht, sich angenommen zu fühlen?
Das empfinde ich auch so. Ich lebe seit 29 Jahren hier. Wenn ich eine Kolumne schreibe, muss ich in den Kommentarspalten lesen: «Geh zurück in dein Land» oder «Flieg heim, Adler!». Was immer ich erreichen und leisten werde – ich werde die Albanerin bleiben. Ich habe das akzeptiert. Das Schreiben hat mir dabei geholfen.


Lange Zeit prägten negative Schlagzeilen das Image der Albaner in der Schweiz. Sie sagen, heute gehörten sie zu den beliebtesten Einwanderergruppen überhaupt. Worauf stützen Sie diese Annahme?
Es ist, was ich bei meiner Arbeit erfahre. Die Veränderung begann meines Erachtens mit den Erfolgen der Fussballer mit kosovarischen Wurzeln. Als ich die ersten Schweizer Kinder mit Shaqiri- und Xhaka-Trikots sah, wusste ich, dass sich etwas ändern würde. Als Kolumnistin schreibe ich über Themen, die die Diaspora betreffen – sie werden sehr gut gelesen. Als Autorin sehe ich zudem, wer mein Buch kauft: mehr Schweizerinnen und Schweizer als Albaner.


Inzwischen reden junge Politikerinnen, Schriftstellerinnen, Künstlerinnen mit kosovarischen Wurzeln mit. Was löst das bei Ihnen aus?
Ich habe grösste Hochachtung vor jeder Einzelnen. Wir alle haben an zwei Fronten gekämpft. Durch unsere Errungenschaften haben wir unseren Eltern bewiesen, dass wir alles möglich machen können, dass ihre Opfer nicht umsonst waren. Wenn ich sehe, wer mir heute nach Fernsehauftritten schreibt, bin ich stolz. Es sind Frauen mit kosovarischen Namen: Ärztinnen, HR-Leiterinnen, Kommunikationsexpertinnen, Psychologinnen. Das ist keine Ausnahme mehr, es ist Standard. And many more to come! 

Zur Person

Shqipe Sylejmani wurde 1988 in Pristina geboren. Die Journalistin, Moderatorin und Autorin hat ihre Integrationsgeschichte in dem viel beachteten Roman «Bürde & Segen» verarbeitet.

Diese Kosovarinnen machen von sich reden
  • Ylfete Fanaj (*1982)

Ylfete Fanaj Erste schweiz-kosovarische Kantonsratspräsidentin «Es ist nicht entscheidend, woher man kommt» präsidierte als erste Schweizerin mit kosovarischen Wurzeln ein Kantonsparlament. Sie ist seit 2011 Luzerner Kantonsrätin. Im Juni 2020 wurde sie zur Präsidentin des Kantonsrats gewählt.
 

  • Leyla Ibrahimi (*1980)

Leyla Ibrahimi steht an der Spitze der Air Prishtina, die jährlich eine halbe Million Passagiere transportiert. Seit 2019 ist sie zudem Eigentümerin der Schweizer Fluggesellschaft Chair Airlines.
 

  • Flaka Jahaj (*1983)

Flaka Jahaj gehört zu den erfolgreichsten Designerinnen der Schweiz. Jahaj studierte Modedesign in Paris. Unter ihrem Label IAHAI fertigt die gebürtige Kosovarin unter anderem für Modissa Kollektionen, die in Pristina produziert werden. 2014 gewann sie den Designpreis der Swiss Design Awards.
 

  • Meral Kureyshi (*1983)

Meral Kureyshi ist in Prizren im Kosovo geboren, lebt in Bern und studierte Literatur und Germanistik. Ihr erster Roman «Elefanten im Garten» war nominiert für den Schweizer Buchpreis, wurde mehrfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt. Das Manuskript von «Fünf Jahreszeiten», ihrem zweiten Roman, wurde mit dem Literaturpreis der Marianne-und-Curt-Dienemann-Stiftung ausgezeichnet.
 

  • Kaltërina Latifi (*1984)

Kaltërina Latifi emigrierte als Fünfjährige mit ihren Eltern in die Schweiz. Sie studierte Germanistik und Philosophie an der Universität Lausanne sowie Editionswissenschaft und Textkritik an der Universität Heidelberg. Als Kolumnistin publiziert Latifi unter anderem im «Schweizer Monat» und im «Magazin».
 

  • Loredana Zefi (*1995)

Loredana Zefi wurde in Luzern geboren. Ihre Lip-Sync-Videos machten die Rapperin über Nacht zum international erfolgreichen Instagram- und Youtube-Star. Sie sagt: «Ich will die Rapkrone, die männliche. Ey, was diese Typen können, kann ich besser, und das als Frau!»

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