Zu Anfang schien es so, als ob die Schweiz entschlossen handeln würde. Bereits am 28. Februar verordnete der Bundesrat an einer ausserordentlichen Sitzung ein Verbot von Veranstaltungen mit über 1000 Personen und ging damit entschlossen voran. Bundesrat Alain Berset liess sich zitieren mit der Aussage: «Der Schutz der Bevölkerung Covid-19 Was Sie über das Coronavirus wissen müssen hat für den Bundesrat oberste Priorität.»

Doch was von der Landesregierung seither kam, war vor allem Schweigen. Der Ruf nach einer Schliessung der Grenze zu Italien aus dem Tessin stiess lange Zeit auf ebenso taube Ohren wie die Forderung von Medizinern nach einem konsequenten Durchgreifen bei Schulen und Universitäten. Zusammen mit den Kantonen wurden einzig ein paar Richtlinien verschärft wie etwa jene, Anlässe mit über 150 Personen nur noch nach Rücksprache mit den Behörden durchzuführen. 

Und obwohl die Schweiz global zu den von der Seuche am meisten betroffenen Ländern zählt, passte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Regeln für die Quarantäne von infizierten Personen von ursprünglich 14 Tagen auf nur noch zehn Tage an. Entgegen den neuesten Erkenntnissen, dass Betroffene bis zu 27 Tage lang ansteckend sein können.

Noch am 12. März liess das Bundesamt für Gesundheit (BAG) im Gegensatz zu einer Einschätzung von BAG-Leiter Daniel Koch in irritierender Ponyhof-Gemütlichkeit Adriano Aguzzi zum Coronavirus «Der Bundesrat handelt verantwortungslos» verlauten: «Von einem gesamtschweizerischen Notstand war und ist nicht die Rede.» Ganz offensichtlich galt in Bundesbern weiterhin die Devise: Warten, was das Ausland macht – wie immer. 

Unterdessen haben Frankreich und Belgien blitzartig angeordnet, alle Schulen, Universitäten und Kindertagesstätten «bis auf Weiteres» zu schliessen. Auch in Deutschland haben mehrere Bundesländer bereits Schulschliessungen befohlen. Österreich schloss die Grenzen zu Italien und kontrolliert jene zur Schweiz. Und auch Tschechien und die Slowakei riegeln ihre Grenzen bereits ab.

Im Tessin – wo bereits vor Tagen der Notstand ausgerufen werden musste – mochten einige Gemeinden nicht länger warten auf Anweisungen aus Bern. In Locarno und Lugano ist die Schulpflicht ab sofort bis vorläufig Ende März aufgehoben. Auch Freiburg und Waadt beschlossen daraufhin, Schulen zu schliessen.

Zögerlich Massnahmen verschärft

Die Restschweiz wartete auch an diesem Tag lange auf ein Zeichen aus Bern. Nicht mal die Homepage der Bundesverwaltung war mehr erreichbar. Erst im Laufe des heutigen Freitagnachmittags trat der Bundesrat via Medien vor die Öffentlichkeit. Es kämen jetzt «einschneidende Massnahmen», sagte Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga. 

  • Ab sofort gilt ein Veranstaltungsverbot für Anlässe mit über 100 Personen. Bars, Discos dürfen offen bleiben, aber nur mit maximal 50 Personen pro Betrieb. 
  • Ab sofort werden zudem die Grenzen zu Italien engmaschig kontrolliert. Der Bundesrat beschloss, allen Personen aus Risikoländern die Einreise in die Schweiz zu verweigern. Auf eine komplette Schliessung der Grenzen wird jedoch verzichtet. Arbeits- und Durchreiseverkehr sollen weiterhin erlaubt bleiben. Bundesrätin Karin Keller-Sutter habe Brüssel entsprechend informiert. 
  • An Schulen darf bis am 4. April kein Unterricht vor Ort stattfinden. Detailmassnahmen sind den Kantonen überlassen.

Die neuen Massnahmen werden unzählige Betriebe, Freischaffende und Angestellte hart treffen. Aber der Bundesrat stelle dafür «rasch und unbürokratisch» Hilfe zur Verfügung.

Es gehe jetzt darum, das Tempo der Ausbreitung zu bremsen, sagte Bundesrat Alain Berset. Der Bundesrat appellierte dafür an die Eigenverantwortung: «Wenn wir nicht alle Massnahmen einhalten, werden wir es nicht schaffen.»

Der Bundesrat rät ausserdem, auf die Benützung des öffentlichen Verkehrs möglichst zu verzichten , ebenso auf nicht dringliche Reisen und auf den Ausgang: «Wir sind alle gefordert», sagte Sommaruga. Der Bundesrat sei aber zuversichtlich, dass die Schweiz dank der neuen Massnahmen und mit der Hilfe der Bevölkerung die Krise meistern werde.

Wertvolle Zeit verloren

Allerdings kommen diese Verschärfungen reichlich spät. Als «zu wenig, zu spät» könnte sich diese Art des Zauderns statt Handelns in Bern schon sehr bald erweisen. Denn mit jedem Tag des Abwartens verstrich und verstreicht weitere, wertvolle Zeit, das Tempo der Virenverbreitung auf ein Mass abzubremsen, das medizinische Institutionen gerade noch bewältigen können.

Dabei zeigt diese Krise auch, dass die Bevölkerung durchaus bereit Kampf gegen Coronavirus «Alle helfen allen» ist, ihr tägliches Verhalten sehr schnell zu ändern, wenn die Zeiten es erfordern. Und wenn – fast noch wichtiger – die Signale der Politik entsprechend klar sind. So, wie das am Anfang der Fall zu sein schien, als der Bundesrat sehr schnell grosse Veranstaltungen unterbunden hat.

Die Folge davon: Schweizer Firmen, Angestellte und in weiten Teilen auch die Bevölkerung haben sofort reagiert. Schneller als es möglich schien, wurde Tausenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in vielen Betrieben Homeoffice verordnet. Auch beim Beobachter arbeiten wir seit Mittwoch dieser Woche bis auf ein kleines Koordinationsteam via Telearbeitstools von zuhause aus.

All dies zeigt, wie schnell gesellschaftliche Veränderungen möglich sind, wenn nur der Wille, die Notwendigkeit und die klaren Vorgaben Arbeit, Reisen, Events & Co. Rechtliche Fragen zum Coronavirus dazu da sind. 
Natürlich wird dieses fiese kleine Virus mehr als eine Delle reissen in die gut geölten globalen Wirtschaftsketten, natürlich droht dem ohnehin weitgehend der Kontrolle entglittenen Finanzmarkt ein sehr empfindlicher Einbruch. Es wäre utopisch zu glauben, die Dinge würden sich schnell wieder normalisieren, und es ginge schon bald wieder alles weiter wie bisher. 

Diese Krise hat das Potenzial, die globalisierte Welt und die exponentiell wachsende Mobilität von Gütern und Menschen Coronavirus Reisende in der Zwickmühle – stornieren oder abwarten? rund um den Planeten nachhaltig zu verändern. Sie zeigt uns, dass in Zeiten von Not und Gefahr auch kein Verlass ist auf die sonst so gerne als unverzichtbar angepriesenen offenen Grenzen. Wenn nationale Interessen höher wiegen, werden diese auch ohne Absprache mit den Nachbarländern von heute auf morgen geschlossen. Und die deutsche Blockade von Gesichtsmasken, die via Hamburg aus China in die Schweiz hätten geliefert werden sollen, ist ein schon fast dreistes Stück von Eigennutz, das erhellt, wie schnell der Anspruch auf europäische Solidarität zerfällt, wenn eigene Interessen gefährdet sind.

Die Chance der Krise

Aber – Hand aufs Herz – wir alle wussten, dass früher oder später etwas kommen musste, was den ganzen, nur auf quantitatives Wachstum und auf Gewinn ausgerichteten weltweiten Wettbewerb empfindlich bremsen wird. Denn weitläufige, verschränkte Systeme Coronavirus Werden nun die Medikamente knapp? organisieren sich mit zunehmender Komplexität wie ein Organismus aus sich selber heraus. Sie sind nur noch begrenzt steuerbar durch die Politik; ihre Entwicklung gehorcht eigenen Gesetzen, die auch zwangsläufige, systemimmanente Korrekturen einfordern. 

Wie immer man das selber einschätzen mag, es ist eine Korrektur, die weh tun wird, die die Welt und unsere als selbstverständlich empfundenen individuellen Konsum- und Reisefreiheiten längere Zeit und womöglich auf Dauer einschränken wird. Diese erzwungenen Einschränkungen können uns allen auch eine Art Lehre sein im Hinblick auf die grosse Herausforderung, dass die Menschheit ihren grenzenlosen Wachstumshunger bremsen muss. 

Diese Lehre heisst: Unser Verhalten, unser immer wahnwitzigeres weltweites Verschieben von Material und Menschen rund um den Planeten, aber auch unsere Ansprüche sind veränderbar, und zwar sehr schnell. Es wird zweifellos anstrengend, unbequem, teuer und vielerlei Verzicht von Annehmlichkeiten fordern. Aber wir kommen nicht darum herum, den bisherigen Kurs nach Mehr in jedem Bereich möglichst schnell zu korrigieren. Leider scheinen wir dafür – wie es nur allzu menschlich ist – nur unter sehr hohem Druck bereit zu sein. Jetzt ist die Zeit dafür, und es wäre schön zu wissen, dass das auch der Bundesrat erkannt hat.

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Dominique Strebel, Chefredaktor
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